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  • 10. Dezember: Die Insel

    Die Luft über Tanja zitterte, war von Salz voll und riss gierig an ihr. Wellen peitschten gegen die Felsen; rauschten und glucksten bedrohlich. Gischt funkelte in der Luft, fing den einzigen Sonnenstrahl des Tages und ließ für wenige Augenblicke einen Regenbogen erscheinen. Tanja atmete tief ein und dann aus, nahm ihr iPhone, wischte die Notifications ungelesen zur Seite und schleuderte es über die Klippen in das tosende Meer. Sie schrie laut auf und spürte ihr Gaumensegel flattern. Doch es spielte keine Rolle, der Sturm, das Rauschen, die reißende Luft würden immer lauter sein als sie. Sie stellte sich vor, wie das Salz die Elektronik zerstören, wie es schlingernd auf dem Meeresgrund hinabsinken, von den Wellen rhythmisch hin und her geschaukelt und sich immer wieder um die eigene Achse drehen würde. Sie spürte eine Erleichterung oder das Gefühl, eine Erleichterung spüren zu müssen.

    Tanja hatte Glück gehabt und war mit der letzten Fähre vor der wetterbedingten Einstellung des Fährbetriebs auf die Insel gekommen. Freie Zimmer gab es in den Pensionen genug. Zuhause hatte sie alles stehen und liegen lassen und war einfach gegangen. Hatte die Heizung nicht heruntergedreht, hatte die Blumen nicht gegossen, hatte den Müll nicht rausgebracht. Sie musste weg aus der Stadt, weg von dem Geräusch, dass das Ladekabel auf dem Parkett machte, wenn sie es vom iPhone abzog. Sie musste weg von ihrem Gesicht im Badezimmerspiegel, weg von ihrer tonnenschweren Bettdecke, einfach weg von allem. Sie hatte keinen Plan gehabt, war einfach jemandem gefolgt und stand plötzlich am Fähranleger. Sie überlegte nicht, kaufte ein Ticket und antwortete auf die Frage, ob sie kein Gepäck dabei habe mit nein. Sie übergab sich mehrfach auf der unruhigen Überfahrt und deutete es einigermaßen dankbar als erste Reinigung. 

    Jetzt stand sie an der Klippe, war vollkommen durchnässt und spürte das körperliche Verlangen, ihr iPhone zu entsperren. Salzwasser brannte ihr in den Augen und eine Panik kroch ihr in die Brust. Welche Konsequenzen würde es haben, wenn sie niemand mehr erreichen könnte? Wie lange würde es dauern, bis man sie suchen und ihre Wohnung aufbrechen würde? Tanja stemmte sich in den Sturm, breitete die Arme aus und überließ sich. Am Morgen würde sie im ersten Licht den gefrorenen Kristallstrukturen auf den Gehwegen nachgehen, darin etwas suchen, wovon sie nicht wusste, was es war. Würde die Lösung finden. Morgen würde sich alles fügen.

  • 09. Dezember: Goodbye Deutschland: Señor Schwertfeger in Acapulco Teil I

    Am Strand von Acapulco kannte jedes Sandkorn die Wagenräder des Eisverkäufers Señor Schwertfeger. Jede Familie, jedes Kind – ach was sage ich – jeder Mensch in Acapulco freute sich, ihn zu sehen. Bereits von weither hörte man seine Glocke, die er an den Streben des Sonnenschutzes angebracht hatte. Ihr Klingeln wurde von den Fassaden der Hochhäuser an der Promenade zurückgeworfen, erreichte getragen von der Oberfläche des paradiesblauen Wassers selbst jeden noch so weit herausgeschwommenen Urlauber und war insgesamt die vollkommene Verheißung. Sein Geschäft lief gut und wichtiger noch, er konnte endlich wieder schlafen.

    Señor Schwertfeger war ein etwas in die Jahre gekommener, aber doch noch irgendwie gutaussehender Mann, der seine dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden trug und sich kurz hinter der Hälfte seines Lebens befand. Señor Schwertfeger war in Folge seiner Verstrickungen in den Niedergang einer großen deutschen Bank und daran anknüpfender durchaus nervenaufreibender Gerichtsprozesse sowie privater und geschäftlicher Verwerfungen nach Acapulco ausgewandert, um dort mit einem kleinen Wagen Eiscreme zu verkaufen. Lassen wir das mal sacken. 

    Die Redaktion einer großen deutschen Auswanderershow, die seit Jahren im Privatfernsehen lief, hatte sich die Finger nach ihm geleckt. Ein gefallener Finanzmogul, eine zwielichtige Gestalt des Finanzsektors, das würde die Quoten in ungeahnte Höhen treiben. Ihr Angebot war nicht schlecht, vor allem für jemanden wie Señor Schwertfeger, der Geld liebte wie andere die Sonne. Der aber, das war nun leider sein Schicksal, sich sozusagen an seiner eigenen Sonne verbrannt hatte und nun Auflagen erfüllen musste, die wie Wolken seinen Himmel verdüsterten und seinen Kontostand deckelten. Sein Anwalt riet ihm ab, fand die ganze Idee seiner Auswanderung – das sagte er ihm nicht persönlich, aber seiner Frau beim Abendessen –, ein „peinliches Affentheater.“ Señor Schwertfeger, der damals noch Rudolph Schwertfeger genannt wurde, lehnte das Angebot also ab. Weil sie ihn aber um jeden Preis in ihrer Show haben wollten, schickte die Redaktion tags darauf eine Vertreterin des Senders zu ihm Nachhause. Sie klingelte und ließ sich von ihm in die leergepfändete Wohnung führen. Er solle es als eine Karrierechance sehen, sein second wind sozusagen, ob er die Reimanns kenne? Er verneinte. Er hatte gearbeitet, mit Zahlen jongliert und alle paar Jahre ein Urlaub irgendwo in einem Ressort in Südamerika gemacht, aber sicherlich kein Fernsehen geschaut. Schließlich, er wusste später selbst nicht mehr, wie es dazu gekommen war, hatte er einen Vertrag unterschrieben. Er sicherte ihnen darin zu, dass sie die Vorbereitungen seiner Auswanderung begleiten dürften. Danach würde man weiterschauen und je nachdem wie die Quoten ausfielen, könnte man, so sagte die Vertreterin, ihm auch ein höheres Angebot machen. „Wenn‘s gut läuft, vielleicht eine Rekordsumme, Herr Schwertfeger, also schön lächeln und auch mal was preisgeben!“

    Rudolph Schwertfeger bereitete also seine Auswanderung vor. Er beantragte ein Visum, für das er von der deutschen Regierung aufgrund seiner Verfehlungen eine Erlaubnis brauchte, verkaufte seine wenigen noch übriggebliebenen Sachen und kündigte seine Wohnung. Ein klassischer Fehler unter Auswanderern war es, so sagte man ihm, die Sprache nicht zu lernen. Er schüttelte darüber den Kopf, denn aus seiner Zeit als international gefragter Bänker wusste er, wie wichtig es war, sich in der Sprache des Gegenübers unterhalten zu können. Deswegen sprach er fließend Englisch, etwas Französisch und hatte ausreichend Mandarin gelernt, um mit den chinesischen Geschäftspartnern Smalltalk halten zu können. Nur Spanisch hatte er nicht gelernt und gerade deshalb wollte er nach Acapulco auswandern. Er wollte einen richtigen Neuanfang mit allem, was dazugehörte. 
    Am ersten Drehtag holte ihn das Kamerateam samt einer Redakteurin zuhause ab, sie verkabelten und brieften ihn und fuhren dann zur Volkshochschule, wo die erste Stunde des Intensivsprachkurs Spanisch für Anfänger stattfinden sollte. Als er die Volkshochschule betrat, spürte er die Kameras in seinem Nacken und sah aus dem Augenwinkel die Tonangel über seinem Kopf baumeln. Er wollte aus der Haut fahren, so unwohl fühlte er sich. Es war die Grundlange für das Unmögliche. Man stelle es sich vor: Ein langer Gang, links und rechts Türen wie in einer Schule oder einem Rathaus. Am Ende des Ganges nun genau zwei Türen. Hinter der Linken Tür der Intensivsprachkurs Portugiesisch für Anfänger, hinter der rechten Tür der Intensivsprachkurs Spanisch für Anfänger. Rudolph Schwertfeger, der unter seinem Hemd vor Aufregung fast verging wie eine Schnecke im Salz, las nur flüchtig das Wort „Intensivsprachkurs“ und öffnete die linke Tür, trat ein, setzte sich und lernte also einen ganzen Sprachkurs lang Portugiesisch statt Spanisch. Er hatte sich lediglich gewundert, warum das Kamerateam so zufrieden und aufgedreht war, als sie ihm am Nachmittag den Sender des Mikrofons aus der Tasche nahmen. Jetzt fragt man sich doch aber: Wie kann es sein, dass jemand einen gesamten Sprachkurs macht, ihn als Klassenbester abschließt, ohne auf irgendeinem Arbeitsblatt auf den Fehler zu stoßen? Tja. Rudolph Schwertfeger zog Dinge, die er angefangen hatte, durch. Das war die einfachste Erklärung. Komplizierter wird es, wenn man es sich genau anschaut, worauf ich, zum Schutz der Geschichte, verzichte.

    Als kurz vor seiner Abreise die erste Folge ausgestrahlt wurde und sie ihn wie den allergrößten Blödmann der Geschichte dastehen ließen, rastete Rudolph Schwertfeger aus. Er riss ihnen die Kameras von den Schultern und schmiss sie auf den Boden, er zog dem Mikrofon den blöden Windschutz ab, schleuderte ihn in eine Hecke und fluchte versehentlich auf portugiesisch. Die Polizei kam und aus irgendwelchen Gründen verzichtete die Produktionsfirma auf eine Anzeige. Rudolph Schwertfeger unterschrieb keinen weiteren Vertrag. Er hatte mit Deutschland ein für alle Mal abgeschlossen. Noch im Flieger schnaufte er vor Wut; andere Passagiere drehten sich genervt oder besorgt zu ihm um. Takeoff. Endlich Takeoff. Die erste und einzige Folge, die von seiner Auswanderung ausgestrahlt wurde, gehört zu den meistgesehenen Videos des deutschsprachigen Internets.

  • 08. Dezember: Falko verpasst das Knochenfabrik Cover von Oasis auf dem Rock am Ring 🙁

    Schulter an Brustkorb, Stiefel auf Vans, Fuß auf Fuß. Bier im Becher, Bier in der Luft, Bier auf Rock am Ring Shirt. Durchdrängeln, wie ein Pflug sich durch das Menschenfeld pflügen. Beleidigt werden. Umarmt werden. Aus dem Augenwinkel abgewertet werden. Stinken. Darüber sprühend Deodorant schichten. Sommermelange kreieren. Bier exen. Jemand Helga rufen hören. Schwindelig werden. Hinter einem Dixi Drogen nehmen. Herzschlag spüren. Wir müssen los jetzt sagen. Rennen, fallen, Schweiß auf staubigem Dreck verlieren. Wieder wie ein Pflug sich durch das Menschenfeld pflügen. Tanja umarmen. Sonnenbrille aufsetzen. Die Hände in die Luft werfen. Den Umbau beklatschen. Die Sonne bewundern. Die wunderschöne Sonne bewundern. Wegen der wunderschönen Sonne die Fassung verlieren. Tränen aus den Rändern der Augen wischen. Über die Spiegelung in Achims schneller Brille staunen. Die schnelle Brille albern finden. Schön finden, dass Achim sie schön findet. Achim das sagen. Achim sagen, wie lieb man Achim hat. Achim den Nacken massieren. Sich aus Achims Schwitzkasten befreien. 

    „Ich glaub, euer Freund hatte ein bisschen zu viel“, sagt der Typ vor uns. „Der wurde mit ein bisschen zu viel geboren“, antworte ich und klatsche Falko mit der flachen Hand auf den Nacken, lege Falko den Arm um die Schultern und zeige so, dass ich ihn unter Kontrolle habe. „Du kannst dich jetzt wieder umdrehen“, drohe ich dem Typen, aber der rollt nur langsam mit den Augen. „Falko, die Langweiler blühen auf, verstehst du?“ Falko nickt. Aber der checkt nichts, es ist wie immer. 

    Kribbeln in den Händen, in der Brust, in der Stirn spüren. In den Nebenhöhlen Eruptionen von Glücksvulkanen befürchten. Mitgerissen werden. Unter Räder kommen. Kontrolle verlieren. Hey, du siehst aber cool aus, mir ist heiß, hat jemand was zu trinken sagen. Trocken würgen. Von Tanja besorgt angeschaut werden. Wie die Sonne in die Erde taucht und den Himmel und alle Gesichter so unfassbar einfärbt, als wären wir eins, als wären wir ein großer wundervoller Organismus, das ist doch nicht normal, denken. Was ist denn bitte normal, Achim, Tanja, lasst uns mal drüber reden, wegen was normal ist und wo die Grenze verläuft und ob wir nicht alle gleichermaßen im Übergang sind ständig, immer, lasst uns mal umarmen, sagen. Ohje fühlen, was zur Hölle passiert hier fürchten, Liam oder Noel auf die Bühne gehen sehen, unter der Wucht eines ersten Gitarrenakkords zerbersten, zerschmelzen, sich auflösen. Unter dem zweiten Gitarrenakkord das Ich verlieren. Das wars, das war ein schönes Leben denken. Au revoir sagen. 

    Champagne Supernova, literarisch. 

    “Falko, du Vollidiot!”, höre ich jemand sagen und noch bevor ich mich traue, die Stimme einer Person zuzuordnen, sehe ich Tanjas Gesicht vor mir. “Du kannst doch nicht von irgend so einem Milchbauern vom Dorf Drogen kaufen. Bist du bescheuert?“ Ich liege auf so einem Feldbett im Sanitätszelt. Um mich nur besoffene Opfer. Überall wird gekotzt und gejammert. Ich hänge an einem Tropf und bin schon wieder seltsam klar. Tanja ist rasend vor Wut. „Und weißt du was?“ Ich traue mich nicht, ihr in die Augen zu schauen. „Hörst du das, Falko? Hörst du das?“ Sie fuchtelt mir mit den Händen vorm Gesicht herum und zeigt in irgendeine Richtung. „Das ist das Ende der Zugabe. Wir haben Oasis verpasst du absoluter Taugenichts.“ Fuck, denke ich, während ich mir versuche den Kopfschmerz aus den Schläfen zu reiben. „Wir haben fucking Oasis verpasst, weil du mal wieder deine Ego-Show abfeuern musstest. Es ist das letzte Mal, dass ich dir helfe. Wir haben Oasis verpasst, Falko! Wegen dir!“ Sie pulsiert auf der Stelle, weiß nicht wohin mit sich und wirft mir ihr Phone auf die Brust. Aua. „Schau dir das an!“ Ich nehme das Phone in die Hand und muss die Augen zusammenkneifen, um etwas zu erkennen. Die Pupillen sind scheinbar immer noch groß wie Teller. „Sie haben Filmriss von Knochenfabrik gecovert, Falko! Checkst du, was wir verpasst haben? Oasis! Haben! KNOCHENFABRIK GECOVERT!“, schreit sie, „du hast den wichtigsten Moment unseres Lebens sabotiert!“ Es stimmt. Wäre es nicht Tanja, die mir das zeigt, ich würde es für ein abgefucktes AI-Cover halten. Tanja reißt mir das Phone aus der Hand und stürmt davon. Ohne zurückzublicken streckt sie mir hinter ihrem Rücken ihre Mittelfinger entgegen. 

  • 07. Dezember: Dinge die gelb sind

    Minions 
    Die deutsche Post 
    Safran 
    Lidl
    Honig 
    Der obere Rand des Notizenapp-Icons sowie die Schrift der Navigation innerhalb der App 
    Gelbe Autos; genauer: Postautos immer
    Zitronen 
    Bananen na klar 
    Das Taxi Schild auf Taxis 
    Die Sonne? 
    Spongebob! 
    Das Etikett von Grafschafter Goldsaft 
    Die Verpackung von Rittersport Knusperflakes 
    Narzissen 
    Einige Paprikas 
    Ein aufstellbares „Achtung Rutschgefahr“ Schild
    Manche Rosen 
    Gatorade Lemon 
    Der Deckel der gelben Tonne 
    Sonnenblumen 
    Der Großteil der Verpackung des Magnesiumpräperats der Marke Verla
    Mais!!!
    Quietscheenten (genauer: Quietscheente des coronabedingt abgesagten Entenrennens 2020)

    Alles Gelbe überraschte, überwältigte, überforderte sie. Sie hatte es, um nicht mehr ständig angespannt und aufgeregt durch die Welt laufen zu müssen, ihren engsten Freunden offenbart. Diese hatten sich nach anfänglichem Unverständnis – es wurde gekichert und getuschelt hinter ihrem Rücken – schließlich doch einfühlsam gezeigt und bei gemeinsamen Treffen das gewagte Auftreten der Farbe Gelb eingedämmt; sie hatten in ihren Wohnungen vor ihrem Besuch gewisse (gelbe) Dinge verschwinden lassen. Da fing der Ärger aber schon an. Denn anders als das Gefühl einer nervenaufreibenden Überforderung, das die Farbe Gelb mit sich brachte, waren es bestimmte Mischverhältnisse, die genau das Gegenteil bewirkten: Entspannung, Ruhe, Harmonie usw. Subgelb also. Ins Goldene gehend, verwässertes Gelb, sowas. Was war nun schlimmer, fragte sie sich, das Ausbleiben einer markerschütternden Überforderung oder der fehlende Frieden?

    Sie mietete in Norwegen, der statistisch am wenigsten gelben Region der Erde, ein Ferienhaus und lud ihre engsten Freunde und Bekannte ein, die aber nur kamen, weil sie als Anlass ihren runden Geburtstag vorschob (Geburtstage waren fast ausschließlich gelb leider); aber da musste sie nun durch, denn es würde ein Wendepunkt in ihrem Leben sein. Sie wollte ihnen ein für alle Mal erklären, in der Ruhe und Dunkelheit des winterlichen Norwegens, was die Farbe Gelb war. Wo sie anfing und wo sie aufhörte. Nachdem sie angereist und staunend unter Polarlichtern sich ihrer Freundschaft erfreut hatten, offenbarte sie ihnen den wirklichen Grund ihrer Zusammenkunft. Sie reagierten durchschnittlich überrascht, manche verdrehten die Augen, aber insgesamt trug niemand etwas Gelbes. Also ließ sie sie eine Liste mit gelben Dingen anfertigen, sozusagen als Referenzpunkte, und ohje, waren davon wenige wirklich gelb. 

  • 06. Dezember: Parzival_der_echte auf Twitch gebannt

    Parzival war zufrieden. Er hatte gut gegessen und schaute auf seinem Tablet das Dark Souls Remastered Let’s Play des Youtubers Feirefiz_gaming1337. Feirefiz stand als mächtiger Ritter in der Mitte des Bildes. Er trug eine prachtvolle Rüstung von unvorstellbarem Wert, die Parzival blendete wie das Glitzern der Sonne im Haar eines Engels. Seinen Kopf schützte ein prunkvoll verzierter Helm, den er dem mächtigsten Ritter der Welt abgenommen haben musste. Sein Schild? Parzival gluckste erregt. Es war so kunstvoll gestaltet, dass er keine Worte dafür fand, es keine geben konnte, dass er glaubte, weder im Himmel noch auf Erden könnte etwas von gleicher Schönheit existieren. In der unteren rechten Ecke des Bildausschnitts saß Feirefiz vor der Webcam, war etwas in die Jahre gekommen nach all den Abenteuern, na klar, dachte Parzival, ihn hatte doch das gleiche Schicksal ereilt. Die Zeit hobelte eben auch an den mutigsten, dachte Parzival und drückte erst auf den Abonnieren-Button und dann auf den Daumen nach oben. Der Ritter Feirefiz schritt mutig in den Kampf und Parzival erblasste vor so viel Geschick. Wie er seine Füße bewegte, wie er das Langschwert führte, so etwas hatte er noch nicht gesehen. Feirefiz schien genau zu wissen, wie seine Widersacher sich bewegen würden. Elegant und wie in einem Tanz drehte er sich um einen der Unholde, bis er im richtigen Moment sein Langschwert in dessen Rücken rammte. Die Klinge durchstach ihn und trat vorne wieder aus. Blut spritzte überall hin. Mit einem entschlossenen Tritt gegen den Rücken der Bestie brachte er sie zu Fall, um im gleichen Zuge das Schwert mit einem befriedigenden Geräusch des Triumphs herauszuziehen. In Parzivals Augen sammelte sich feucht die Aventiurelust, die so lange geschlummert hatte und die er eigentlich mit seiner Therapeutin zur Seite gelegt hatte. Von unfassbarer Stärke mussten diese dunklen Kreaturen sein, dachte Parzival, denn wider aller Logik, und nur möglich durch dämonisches Zutun, richteten sich manche wieder auf, um wütend auf Feirefiz zuzustürmen. Sie schwangen ihre rostigen Klingen, die, daran hatte Parzival nun keine Zweifel mehr, an dem glänzenden Schild des Helden zerbersten würden. Schließlich hatte Feirefiz alle Kreaturen niedergestreckt. Sie lagen reglos vor ihm und da ihn doch eines dieser Scheusale verletzt hatte, trank er gierig den Inhalt eines großen Flakons und war wie von Gotteshand vollständig geheilt. Aus den Wolken fielen goldene Strahlen. Der ältere Feirefiz klatschte in die Hände und bedankte sich für das Anschauen seines Let’s Plays, verwies auf seinen Twitch-Kanal, auf dem er regelmäßig streame und ein schwungvolles Outro erklang, Leier und Schalmei forderten zum Tanz auf, während der furchtlosen Ritter fröhlich schunkelte.
    FEIREFIZ_GAMING1337, THANKS FOR WATCHING! SEE U SOON. 

    Parzival schloss die Youtube-App und öffnete den Browser, er wollte Feirefiz unbedingt direkt auf Twitch eine Nachricht schreiben und ihm mitteilen, wie beeindruckt er von ihm und seinem Kampfgeschick war. Er wollte ihm alte Fotos seiner Rüstungen zeigen und ihn übertrumpfen mit Geschichten seiner Aventiuren und ihn, sofern er in der Nähe von Ansbach lebte, zu einem Kampf herausfordern. Natürlich nicht mit echten Schwertern, sondern mit den Nachbildungen seiner LARP-Gruppe. Er hatte sich seit Jahren nicht so kraftvoll und vitalisiert gefühlt. Er steckte sich eine Rumkugel in den Mund und besiegte sie. 

    www.twitch.tv/feirefiz_gaming1337

    Das einzugeben hatte gedauert, denn seine Finger waren vom jahrelangen Schwertführen steif und lahm und erschwerten die Feinmotorik, so dass er eigentlich nur das anschaute, was der Algorithmus ihm auf der Startseite vorschlug. Jetzt also Twitch, das nächste große Abenteuer.
    Als die Seite endlich geladen war und er sich durch die Werbung eines Vergleichsportals gekämpft hatte, in der ein Fuchs, so ehrlich musste er sein, ein eingängiges Lied sang, sah er Feirefiz. Er erstellte sich ein Benutzerkonto. Name? Parzival_der_echte. Aber Moment. Etwas stimmte nicht. Anders als in seinem Dark Souls Remastered Let’s Play sah Feirefiz nun gar nicht mehr alt und gezeichnet aus. Sein Gesicht war so makellos ausgeleuchtet, dass seine Haut aussah wie die der schönen Orgeluse. In Feirefiz Augen leuchtete glänzend ein Ring, als wäre er dem Paradies entsprungen. Aber wo war sein Ritter? Wo war der tapfere Feirefiz mit seiner glänzenden Rüstung, die Parzival den Atem geraubt hatte, mit seinem mächtigen Schwert, das ihn vor Ehrfurcht nervös die Hornhaut von den Ellenbogen knibbeln ließ? Ohrenbetäubende Musik plärrte aus dem Tablet. Auf dem Bildschirm sah er bunte Flächen auf denen kleine Würmerwesen jubelnd über Hindernisse sprangen, in die Tiefe fielen und von vorne begannen. Parzivals Miene verfinsterte sich und er tippte wütend, während Feirefiz eine Dose Artusbrause mit einem Rabattcode FEIREFIT25 anpries: „Du tugendloser Feigling, bist deines Namens nicht würdig!“ in den Chat und ergänzte, sein Kopf kermesrot: „DU SCHWEINEHIRTE!“

    „WARNUNG: Keine Caps erlaubt! Wiederholungen führen zu einem Timeout.“

    FEIREFIZ KOMM 1 GEGEN 1

    „Du kannst nicht im Chat schreiben, da du von diesem Kanal gebannt wurdest.“

  • 05. Dezember: FUTUREgl1bb3r

    Ich stehe an der Bushaltestelle. Alles wirkt eigenartig. Vor mir auf dem Gehweg liegt der Rest einer Pizza und ich erkenne den Abdruck von Zähnen darin. Über mir kreist gierig eine Möwe, setzt immer wieder zur Landung an, um dann im letzten Moment abzudrehen. Ich bin zu nah an ihrer Beute. Ich schiebe mit meinem Stiefel den Pizzarest vorsichtig ein Stück weiter an die Bordsteinkante. Die Möwe landet, tapst hastig die letzten Zentimeter, schnappt sich den Pizzarest und fliegt tief über die Straße davon. Das muss eine echte gewesen sein, denke ich, so exakt wie sie reagiert hat, so glitchfrei wie sie sich bewegte. Der Bus kommt und ich steige ein. Es ist eigentlich kein Bus mehr, wir nennen die Kapsel nur so, weil wir um jeden Preis an einer Vergangenheit festhalten wollen. Die Sprache geben wir als letztes auf. Die Kapsel hat weder Räder noch einen Fahrer und ich bin mir nicht mal sicher, ob sie sich wirklich fortbewegt oder die Welt um sie herum nur neu zusammengesetzt wird. Raum im Raum im Raum. Die Supersimulation hat es jemand genannt; das habe ich irgendwo aufgeschnappt. Als ich die Kapsel betrete, leuchtet es kurz grün, was heißt, dass alles in Ordnung ist. Ich schaue auf mein iPhone, was ich nur aus starknostalgischen Gründen noch benutze und sehe, dass es die Fahrt registriert hat. Bis zum Ende des Jahres darf ich es noch behalten, dann muss ich es gegen eine der Linsen tauschen. Ich habe mir die Zukunft immer wie eine Black Mirror Folge ausgemalt, in der die Veränderungen so überspitzt deutlich wurden, dass man nicht anders konnte, als sich davon befreien zu wollen – aber jetzt ist alles anders. Ich merke es kaum, ich weiß nur, dass sich alles fundamental verändert hat. Wie ein Halsschmerz auf der Seele, der auch nach dem Schlucken nicht verschwindet. Manche meiner Kollegen sagen, wir seien die digitale Sicherheitskopie, die erstellt wurde, als der Komet ANAS auf die Erde zuraste. An den ich mich erinnere, an die große Angst vor der Vernichtung und die unbeschreibliche Erleichterung, als die NASA ihn abfing und seine Flugbahn manipulierte und nur ein paar hunderttausend Menschen an der Beinahtangente gestorben sind. Mein Kollege sagt, das sei Fiktion, um unsere Gehirne vor dem Kollaps zu schützen. Der Komet habe wirklich die Erde zerstört und wir, die Realität und alles eben, seien ein berechnetes Spiegelbild. Quasi abgepaust wie ein Pfennigstück nur eben bis in die Strings identisch. Ich setze mich in der Kapsel auf einen der Sitze. Es gibt keine Doppel- oder gar Vierersitze mehr. Außer mir sind hier noch ungefähr sieben andere Menschen, das weiß ich, weil die Maschinen andere Wege nutzen. Sie schauen aus den Fenstern, die keine Fenster, sondern Projektionen sind. Wenn sie die Linsen tragen, dann sehen sie, was sie wollen. Das Berner Oberland, Kitchen Impossible aus dem RTL+ Archiv oder das milchblaue Glitzern der Adria. Ich allerdings sehe nur die lieblose Illusion meiner Stadt, die mir jedoch hundertmal lieber ist, die ich aufsauge, bis ich ankomme. Die Kapsel öffnet sich. Ich habe kein Abbremsen, keine Fliehkraft oder irgendwelche Weltgefühle wahrgenommen. Ich steige aus und gehe einen langen Gang entlang, der an eine U-Bahn-Station einer Großstadt erinnert. Mein iPhone vibriert und sagt mir, in welche Richtung ich gehen soll. Ich habe die Anweisungen noch nie ignoriert. Ich stehe vor einer Schleuse und der Sensor erkennt mich. Sie öffnet sich und ich trete ein. Die Simulation einer notwendigen Tätigkeit: Zischen, Luftaustausch, fein zerstäubter Nebel etc. Ich darf eintreten. Ein Zwischenwesen bringt mich zu einer medizinischen Liege und ich weiß, was zu tun ist. Ich lege mich auf den Rücken und warte, bis die Nadel in meine Vene gleitet. Dass es kurz piekst, dass ich einen echten Schmerz spüre, erleichtert mich und lässt mich an dem Gedanken festhalten, dass ich noch echt bin. Mir wird mein gesamtes Blut entnommen und kurzfristig durch einen Glücksglibber substituiert. Ich bin zufrieden. Ich helfe ihnen gerne. 

  • 04. Dezember: Es wird nie wieder schöner sein, denkt Lynn

    Die Oberfläche des Sommersees ist spiegelglatt. Nur vereinzelt gleiten kleine spinnenartige Wesen mit ihren unzähligen Beinen über das Wasser, schlagen mikroskopische Wellen und verharren. Hin und wieder steigen Luftblasen auf und zerplatzen. Mücken wabern in dunklen Schwärmen und Ameisen tragen die Reste eines Cornetto Buttermilch Zitrone in den Wald. Es geht kein Wind. Die Hitze des Tages wiegt schwer. Wo eben noch Decken im Gras lagen, richten sich nun langsam die Gräser auf. Die Sonne steht tief, lässt die Bäume lange Schatten werfen. Der Himmel brennt. Lynn schlägt die Augen auf. Lynn führt die Flasche zum Mund. Lynn ist glücklich. Sam ist eingeschlafen. Maxi pult feuchte Rinde von einem Stock und Amir malt Sam schlafend. Lynns Gedanken schaukeln vom Alkohol ganz weich. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“, murmelt sie, „das ist so ein blöder Spruch, aber es stimmt.“ 
    „Wirklich ein blöder Spruch“, sagt Maxi forsch und schleudert die glitschige Rinde fort.
    „Aber es stimmt halt“, sagt Lynn. „Weißt du noch, was du damals gesagt hast, Maxi?“ 
    „Was hab’ ich wann gesagt?“
    „Na, damals, als ich das mit dem jung zusammenkommen gesagt habe und du meintest, das wäre ein Kalenderspruch und so. Sowas würdest du ja jetzt nicht mehr sagen, oder? Weil damals warst du ja noch total jung.“ 
    Maxi schüttelt den Kopf, reißt ein Büschel Gras aus dem Boden, stellt sich breitbeinig über Lynn und lässt die Halme einzeln auf ihr Gesicht segeln. „Du redest so einen Müll, zum Glück schreibst du keine Texte!“ Sam ist aufgewacht. Sam steht auf, trinkt einen großen Schluck Punica Tropical Fruits mit Wodka und verschwindet im See. Enten und Gänse fliegen panisch davon, klatschen mit ihren Flügeln auf dem Wasser. Sam taucht auf, schüttelt den Kopf und Wassertropfen fliegen durch die Luft. Amir malt Sam schwimmend, hebt den Kopf und sagt: „Proben wir später eigentlich noch?“ 
    „Aber sowas von!“, ruft Sams Kopf weit draußen vom See.
    Sie packen ihre Sachen und auf dem Weg zu den Fahrrädern denkt Lynn, dass es niemals wieder schöner sein wird. Sie sagt es nicht laut, weil Maxi das nicht ertragen und sie in die Brennnesseln schubsen würde. Also nimmt Lynn einfach Maxis Hand und lächelt, was Maxi nicht sieht, weil die dunkle Luft der Nacht sie umhüllt. Sie schieben die Fahrräder. Die Dynamos summen, rhythmisches Licht pumpt aus den Lampen. Irgendwo quakt ein Frosch. 

  • 03. Dezember: Ilse und Hermann gehen

    Alles war von Staub überzogen. Manchmal, wenn die Sonne schien und die Rahmen der Fenster das Licht portioniert in die Wohnung ließen, tanzte er wirbelnd durch die Luft. Wie schön sie das fand. Schon lange war das Gefühl des Versagens verschwunden und Hermann störte es sowieso nicht. Hermann seufzte. Der Fernseher war ausgegangen. Das tat er hin und wieder, aber einen neuen zu kaufen, das war nicht drin, das kam ihnen nicht in den Sinn, das lohnte sich einfach nicht mehr. Hermann erhob sich, was schon mal den ganzen Tag dauern konnte und schlurfte Schritt für Schritt, Beine und Knie wackelig, am dunklen Teakholztisch vorbei zum Fernsehschrank. Er wusste, was zu tun war. Wäre er einmal nicht mehr, ihr würde nur der tanzende Staub in der Luft bleiben, der, so tröstete sie sich, wenigstens keinen bodenlosen Unfug reden würde. Hermann sackte zurück in den Sessel und atmete zufrieden. Auf der Mattscheibe flackerten bunte Welten und irgendwer hatte irgendwen umgebracht. Sie verstand nicht, warum man sich so etwas anschaute, wenn auch dort der Tod allgegenwärtig war. Aber Hermann mochte es und wenn Hermann zufrieden war, dann war sie es auch. Sie strich mit der Hand über die weiche Lehne ihres sanftroten Ohrensessels. Noch immer hatte sie das Gefühl, besonders vorsichtig sein zu müssen; er hatte doch ein halbes Vermögen gekostet, war noch so gut wie neu, obwohl sie sich an ein Leben ohne ihn schon nicht mehr erinnern konnte. Sie betrachtet sich. Wann war ihre Haut eigentlich so faltig und schlaff geworden? Seit wann hing sie am Unterarm herunter, als würde ein Grab schon an ihr reißen. Ob es Hermann auch so ging? Die Kraft ihrer Augen reichte nicht mehr, schaute sie zu ihm hinüber, sah er noch immer so aus, wie das Bild, das sie von ihm hatte: Ein großer, kräftiger und gutaussehender Mann. Mein Hermann, trägst du mich irgendwohin? Ich möchte hier nicht mehr sitzen, ich möchte gehen mit dir, du an meiner Seite und ich an deiner, wir beide, du und ich, wie damals, weißt du, als du deine Lippen auf meine gelegt und ich gekichert und du mich besucht hast, wir uns versteckten vor meinen Eltern, ach Hermann, du warst wirklich der Hauptgewinn.

    Vor den Fenstern stieg die Sonne und senkte sich, es regnete und schneite und manchmal glomm die Hitze und schmolz die Luft, ließ die Häuserwände glühend pulsieren. Schau Hermann, wie in der Wüste. Wie in der Wüste, wiederholte Hermann zufrieden. Manchmal sah sie den Schnee in den Lichtkegeln der Straßenlaternen niedergehen. Schau Hermann, wie es schneit. Oh ja, bemerkte er. 

    Hermann schnarchte ruhig. Der Fernseher bläkte und Ilse stand auf. Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. Aber es ging noch. Und wie es ging! Ein Schritt hierhin, einer dorthin und schon ein anderer Winkel, eine andere Welt. Aber erstmal wieder hinsetzen. Jeden Tag nun, wenn Hermann schlief, tapste sie durch die Wohnung, schaute sich alles an und warf sogar einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster. Hermann, rief sie, Hermann, wach auf. Was ist, Ilse, bin ich eingeschlafen? Natürlich bist du das, aber darum geht es nicht. Wir verreisen jetzt, wir verlassen das Haus, wir gehen spazieren. Bist du wahnsinnig, fragte Hermann. Ich glaube schon, ich glaube, ich bin’s gerade geworden. Okay, sagte Hermann, das ist okay. Nicht wieder einschlafen, Hermann! Ich habe uns schon eine Tasche gepackt. Du meinst es ernst, sagte Hermann. Ich mein es ernst. Ilse brachte ihm seinen Anorak, sah ihn jetzt von Nahem, das erste Mal seit Jahren. Nicht mehr ganz, wie sie gehofft hatte, aber Hauptsache, er stand hier mit ihr. Sie kämmte sein schütteres Haar, bis es aufgab und sich auf seinen Kopf legte. Schön siehst du aus, mein Hermann. Schön siehst du aus, meine Ilse. Gehen wir wirklich? Und wie wir gehen, siehst du, wir stehen doch schon, das ist das Schwerste. Wer erstmal steht, der ist nicht aufzuhalten. Wie recht du hast, sagte Hermann und lächelte. Das gab es doch nicht. Ihr Herz schlug schneller. Da bist du ja, jauchzte sie. Wer ist wo, fragte Hermann. Du bist hier, bei mir und ich seh’ dich und ich fühle dich. Dann harkten sie sich beieinander unter und verließen die Wohnung, schlichen vorsichtig durch das Treppenhaus und vor die Tür. Dort waren Tag und Nacht, Sommer und Winter, Krieg und Frieden, Trauer und Freude, dort waren sie. Ilse und Hermann. Einen Schlüssel hatten sie nicht dabei. 

  • 02. Dezember: Tom und ich, Mentos und Cola

    Tom und ich. Oh Boy. Das glaubt ihr nicht. Wir sind wie Mentos und Cola, wie Brausepulver mit Wodka, wie Feuer und Benzin. Tom und ich. Wie sagt ihr noch gleich? Das passt wie Arsch auf Eimer. Wir laufen durch die Straßen und Tom immer ein bisschen vor mir. Er ist so schnell, er fällt mehr, als dass er rennt. Eben hat Tom einem Typen vor Rewe, der so dumm geglotzt und sicher auch etwas gesagt hat, so dermaßen die Lichter ausgeschaltet, dass sein schwerer Körper auf den Asphalt geknallt war und dabei ein Geräusch gemacht hat, als wäre ein Sack Zement auf den Boden der sixtinischen Kapelle gefallen. Tom hatte Anlauf genommen, war gerannt – eigentlich geflogen, so ehrlich muss ich sein, aber das merkt ihr ja nie – und hatte seine Faust geballt in die Gesichtsknochen des Wichsers gedrückt. Ich habe die Zeit verlangsamt, ich wollte es mir genau anschauen. Stand also daneben mit den anderen. Mit der Frau, die Zeitungen verkaufte, mit den Jugendlichen, die dampften wie Lokomotiven, mit dem Hund, der angebunden kläffte und den ich sprechen ließ, der sagte, mach ihn kalt Tom, ich fress sein Herz, wenn es noch warm ist, Tom, darf ich? Ja, darf ich? Bitte, bitte, bitte!!! Dann wieder wau, wau, wau, weil er nervte. Toms Hand also zur Faust geballt. Traf die Wange. Ich hielt die Zeit an. Snapshot. Für einen kurzen Moment eine sanfte Berührung, dachte ich und sagte das. Tom, schau mal, wie du ihn berührst, es ist das Zärtlichste, was ich je gesehen habe. Tom rollte mit den Augen. Der Hund hatte die Zähne gefletscht, so ein kleiner war das, den man mit einem Tritt durch die Wolkendecke hätte schießen können. Richtig scharf die Zähne, dachte ich, als ich sie befühlte. Alle waren erschrocken, mit weit aufgerissenen Mündern, Zahnersatz hier, Zahnersatz da. Unfassbar langweilig irgendwie. Ich schaute ins Telefon des Typen, nahm es ihm aus der viel zu engen Ripped-Jeans. Hielt es vor sein Gesicht, Face-ID, Idiotenkacke. Uff, ne, zu armselig der Wurm. Darf ich jetzt bitte weitermachen, sagte Tom und ich ließ die Zeit laufen. Krawumms. Die Faust grub sich – wie gesagt – knirschend in sein Gesicht, Toms Knöchel platzten auf, kleine Hautfetzen flogen durch die Luft, Blutpartikel überall, Tom hatte übertrieben. Wie immer. Die automatische Schiebetür vom Rewe stand offen, weil der Typ so überall war. Blut klebte an den Adventskalendern vor den Kassen, rann an ihnen herunter, ich machte, dass es aussah, wie in einem Film. Close-Up. Musik dahinter. Hans Zimmer, kommst du mal. Hier ist dein Keyboard, du machst das jetzt hier wahnsinnig bedeutungsvoll, sonst setzt es was. Also jetzt die Szene nicht mehr so bedrohlich und angsteinflößend, wie sie gerade noch war, weil sie ECHT war. Mit Musik hinterlegt und den Close-Ups und der verlangsamten Zeit nun also ein KUNSTWERK. Ok. Der Typ blieb aber dennoch liegen. Tom lachte höhnisch, wie er es immer tat. Nichts bedeutete ihm etwas. Sirenen kamen von überall, mist, ich hatte die Zeit nur vor dem Rewe angehalten, aber nicht bei dem Opa hinter dem Fenster, mit dem Kissen, auf das er seine Ellenbogen legt und darauf wartet, dass genau so etwas passieren würde. Er hatte auf der Kurzwahltaste seines Festnetz-Telefons tatsächlich die Nummer der Polizei, bemerkte ich, als ich nachschaute. Da kommen sie also, die Bullen, die Schweine, machte ich irgendwen nach. Tom, sagte ich. Lass mal abhauen und Tom nickte und lief, wie gesagt, er fiel eher, als dass er rannte. Er fällt eher, als dass er rennt. Wir nun also auf der Flucht. Die Bullen versuchen uns mit quietschenden Reifen den Weg zu versperren. Tom springt hoch, fliegt drüber, ein Schritt auf das Autodach, drinnen kracht es, wie die schauen, es ist der Wahnsinn! Dann Schüsse laut in der Luft und ich wieder das Ding mit der Zeit, die Kugeln also, sie kriechen auf uns zu, sind heiß und Qualm steigt auf aus den Pistolen. Es reicht Tom und mir. Wir nehmen Anlauf, mit großen Schritten, wie beim Weitspringen katapultieren wir uns in die Luft und nach dem letzten großen Satz legen wir uns in sie und gleiten davon, wir fliegen, das glaubt ihr mir nicht, aber wir fliegen. Staunen. Oh und Ah. Lass mal richtig abhauen, sagt Tom und wir schrauben uns in die Höhe, bis es komplett finster wird. Irgendwann schließlich unter unseren Füßen feiner Staub. Farbenfroh, friedlich. Wie wunderschön es ist, sagen wir in unison. Wir setzen uns auf eine Bank. Riesengroße Libellen schwirren durch kribbelnde Luft. Mindestens fünf Monde über dem Horizont. Der Himmel sorglos, das Licht leicht. Tom streicht sanft über meine Hand, fährt einzeln die Finger ab, berührt mein Gesicht, berührt die feine Haut unter meinen Augen, fährt mit den Fingern über die leicht geöffneten Lippen meines Mundes. Eine saftige Träne verlässt mein Auge. Wir atmen im gleichen Rhythmus. Unsere Herzen sind eins. Tom verlässt die Form. Tom lässt es gut sein. Wir atmen aus. Oh, bevor ich es vergesse; mache, dass die Zeit rückwärtsläuft, dass der Typ aufsteht, dass Tom und ich irgendwo anders sind, wo wir zur Abwechslung mal etwas Schönes machen, ein Eis essen oder das Nilpferd aus dem Berliner Zoo befreien oder so. 

  • 01. Dezember: Merit und die European Space Agency

    Merit schaute durch das gigantische Teleskop, das auf die verhältnismäßig schmale Luke des Observatoriums gerichtet war. Sie konnte kaum glauben, dass man sie durchschauen ließ. Als technische Leiterin der Datenauswertung überschaute sie Tabellen und Zeitpläne, hatte jedoch mit den Untiefen des Universums reichlich wenig zu tun. Sie hatte allerhand Formulare und Einverständniserklärungen unterschreiben und dem Wissenschaftsdirektor, der ihr streng in die Augen geschaut hatte, versichern müssen, es im Kollegium nicht herumzuerzählen. Die meisten waren sowieso in Washington, hatten geheime Termine mit der NASA zu denen sie angespannt aufgebrochen waren. Merit hatte sich eigentlich auf die Weihnachtszeit gefreut, auf die ruhige Gemütlichkeit, die auch in eine hochprofessionelle Institution wie die European Space Agency einsickerte, sich wohlig ausbreitete, die man in den Gesichtern der Mitarbeiter*innen sehen und in ihrem Gang erkennen konnte. Dieses kurze Durchatmen, wenn die Luft von geschälten Früchten zitrussüß und die Tastaturen und Knöpfe klebrig waren. Wenn wütende Mails der Gebäudereinigung auf feierliche Autoreplys trafen. „Das machen wir im neuen Jahr“, war ihr Lieblingssatz in dieser Zeit. Doch dieses Jahr schien es anders. Nicht mal die Pförtnerin hatte einen Adventskranz.
    Aber Merit durfte durch das Teleskop schauen. Sie sah unendlich alte Gasnebel tiefrot glühen wie Sonnenuntergänge, sah Pulsare sich drehen wie Kreisel, sah das schwärzeste Schwarz, das sie je gesehen hatte, spürte es sie kurz ergreifen, schüttelte es ab und sah Kometen glühend rasen. Sie hörte Schritte auf dem glatten Boden hinter sich. Es musste Cliff sein. Der Bereichsleiter extraterrestrischer Artefakte und Vibes. Den Moschus seines Parfüms roch man bereits lange vor seinem Erscheinen. Es war sein Versuch, die Unsicherheit zu überspielen. Sie hörte das Öffnen seiner Lippen, dieses kurze Schmatzen vor dem ersten Laut, das man nur in einem solchen Raum hörte, in dem es fast zu jedem Zeitpunkt unendlich still war. „Weißt du, warum du hier bist?“, fragte er. 
    „Weil die ESA eine Adventskalenderaktion macht und jeden Tag jemand durch das Teleskop schauen darf, der sonst keine Freigabe hat?“, scherzte sie.
    Cliff lachte. Suchte verlegen nach Wörtern. Wurde rot, räusperte sich und sagte schließlich: „Ich wünschte, es wäre so einfach.“ In seiner Stimme lag etwas Schweres. „Merit …“, sagte er ernst, „Du spürst es doch auch, oder? Du spürst, dass sich etwas verändert hat, diese Vibration im Kern, dieses Gefühl allumfassender Partikelflucht?“ 
    „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Cliff.“ 
    „Und genau deswegen bist du hier“, sagte er triumphierend, „weil du unbefangen bist, darum haben wir dich eingestellt. Weil du aus der alten Wissenschaft kommst. Weil du ihr verpflichtet bist.“ Cliff pulte lustvoll bunte Fusseln aus seinem blassorangenen Rollkragenpullover, schnipste sie in die Luft und hing ihnen verträumt nach. Er ignorierte die Sicherheitsbestimmung, die eine strenge Berufskleidung vorschrieben. Overalls, Namensschilder und sowas. Gerade solche Fussel, hieß es, würden die sensible Elektronik der Teleskope beschädigen.

    Seit sie bei der ESA arbeitete, hatte sie sich zunehmend darüber gewundert, dass immer öfter von Stimmungen und Vibes gesprochen wurde. Offensichtlich hatte ein Shift hin ins Esoterische stattgefunden. Es gab kaum mehr Raketenstarts, dafür Tänze und Duftöle in den Konferenzräumen. In den letzten Monaten hatte sie das Gefühl, man wollte sie immer weiter von ihrer Tätigkeit abbringen. Sie gaben ihr die absurdesten Aufgaben: Sie könnte ihre Auswertungskriterien doch auch mal farblich denken, räumlich, sie mal umordnen, substanzinduziert neuarrangieren. Excel einfach mal schließen. Wirklich mal ALLES anders denken und es dann am kommenden Montag der Wissenschaftsleitung vorstellen. Bitte, was? — 

    „Merit, dass du es nicht verstehst, ist der Kern der Sache!“, sagte Cliff, als er ihr inneres Augenrollen zu bemerken schien. „Ich stelle dir jetzt die Koordinaten ein, wegen derer du hier bist und du musst mir beschreiben, was du siehst UND was du fühlst, verstanden?“ 
    Merit zuckte mit den Schultern. „Ok.“ Vor einer Woche war das Weihnachtsgeld gekommen, da wollte sie sich nicht querstellen. Sie hörte Cliff piepend in eine Konsole tippen. Das Teleskop bewegte sich mechanisch surrend auf seine neue Position und die Luke der Kuppel öffnete sich ein weiteres Stück. Cliff schaute durch das Teleskop, trat einen Schritt zurück und nickte zufrieden. „Nur zu!“, sagte er und wirkte plötzlich gar nicht mehr schüchtern. Merit legte ihr Auge auf das Eyepiece und schaute durch. Sie sah nichts. Es war einfach nur schwarz, nicht mal so dunkel wie das Schwarz, das sie vorhin gesehen hatte. Eher so ein der-Fernseher-findet-das-HDMI-Signal-nicht-Hintergrundschwarz. „Und?“, sagte Cliff aufgeregt. 
    „Ich sehe nur schwarz, sonst nichts.“ 
    „Oh“, seufzte er. „Versuch mal mit dem Herzen zu sehen, ja?“ 
    Er tat ihr leid. Er war ein Idiot, aber er tat ihr leid. Er wirkte wie ein kleiner Junge, dessen selbstgebastelten Flügel ihm beim Sprung von der Sofalehne nicht getragen hatten. Es war der Beginn der Weihnachtszeit, der erste Dezember, um genau zu sein, da könnte sie ihm doch auch eine kleine Freude machen, dachte sie. Immerhin durfte sie durch das Teleskop schauen. 
    „Oh!“, rief sie, „Oh, jetzt seh‘ ich was!!!“
    „Merit, was siehst du? Sag schnell!“ 
    „Ich sehe eine Form, sie ist geometrisch und golden, sie bewegt sich, als würde sie einen Zustand erlangen wollen. Funken schlagen an den Rändern, violette Strahlung. Cliff, es sieht wie ein Engel aus!“ 
    „Also doch“, raunte Cliff fassungslos. Er setzte sich sein Headset auf und kletterte hastig über eine Leiter zu einem weiter oben gelegenen Kontrollkasten.
    „Washington, can you hear me? Over.“
    „We can hear you loud and clearly Heidelberg-Königsstuhl. Over.” 
    “Code Panis Angelicus. I repeat. Code Panis Angelicus. Over.”
    Das Funkgerät rauschte und nach einer Pause, in der Cliff wie versteinert dastand, der Blick gen Weltall, krächzte es: “Proceed. See you on the other site. Godspeed. Over.” 
    Cliff öffnete den Kasten und schlug mit der flachen Hand auf einen, wie Merit schien, überdimensionierten großen roten Knopf. Alarmsirenen heulten schrill auf, Lichter blinkten bedrohlich, Türen fielen zu und die Luke über dem Teleskop schloss sich. „Merit! Schnall dich fest! Da drüben! Du hast Glück, du wirst auch gerettet!“ Cliff schrie gegen den Lärm der Sirenen an, während er auf eine Reihe an futuristisch anmutenden Sesseln zeigte, die gerade aus dem Boden gefahren kamen. Was passierte hier? Es war wie in einem dieser dämlichen Science-Fiction-Filme, die sie so hasste. „Merit! Schnell!“ Cliff ließ sich hastig von den letzten Stufen der Leiter fallen und half ihr, den Gurt im Sessel anzulegen. Er zog ihn so fest, dass es wehtat. „Aua!“, schrie sie. „Tut mir leid, aber es muss so sein.“ Auch Cliff schnallte sich nun fest und warf ihr einen Astronautenhelm zu, den sie, ohne noch irgendetwas weiter zu hinterfragen, aufsetzte. Er zeigte ihr ein fragendes thumbs up.„Ne, Cliff, Daumen nach unten. Mag ich gar nicht nicht. Dislike“, raunte sie genervt, aber das würde er natürlich nicht hören. Daumen nach unten. Es spielte keine Rolle: Ein schiebendes Dröhnen überzog alles, drang ihr durch die Haut in die Organe, begann ihre Zellen zu zersetzen. Dann Explosionsgeräusche. Dann ein Schub, ein Pressen in der Brust, ihr Rücken tief im Polster des Sessels, ihre Augen seitlich in den Schädel gerollt – SCHWARZ.  

    Stille. Sie blinzelte. Dunkel. Hell. Dunkel. Hell. Einatmen. Ausatmen. Geht noch. Wo bin ich? Ah, ja. Ne, hä? 

    Sie sah Cliff schwerelos durch das Observatorium treiben. Er sprach geschäftig und beinahe routiniert in sein Headset und betätigte vorher nicht dagewesene Instrumente und Konsolen. Piep. Piep. Die Kuppel hatte sich wieder geöffnet und schien durch ein Energiefeld geschützt zu sein. Es glibberte wie Agar-Agar. Sie traute ihren Augen nicht. Sie flogen tief durchs Weltall, an Sternen vorbei, an Monden und Sonnen vorbei und in Richtung eines goldenen Lichts. Cliff, der Idiot, hatte sie ins Weltall geschossen.

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