Am Strand von Acapulco kannte jedes Sandkorn die Wagenräder des Eisverkäufers Señor Schwertfeger. Jede Familie, jedes Kind – ach was sage ich – jeder Mensch in Acapulco freute sich, ihn zu sehen. Bereits von weither hörte man seine Glocke, die er an den Streben des Sonnenschutzes angebracht hatte. Ihr Klingeln wurde von den Fassaden der Hochhäuser an der Promenade zurückgeworfen, erreichte getragen von der Oberfläche des paradiesblauen Wassers selbst jeden noch so weit herausgeschwommenen Urlauber und war insgesamt die vollkommene Verheißung. Sein Geschäft lief gut und wichtiger noch, er konnte endlich wieder schlafen.
Señor Schwertfeger war ein etwas in die Jahre gekommener, aber doch noch irgendwie gutaussehender Mann, der seine dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden trug und sich kurz hinter der Hälfte seines Lebens befand. Señor Schwertfeger war in Folge seiner Verstrickungen in den Niedergang einer großen deutschen Bank und daran anknüpfender durchaus nervenaufreibender Gerichtsprozesse sowie privater und geschäftlicher Verwerfungen nach Acapulco ausgewandert, um dort mit einem kleinen Wagen Eiscreme zu verkaufen. Lassen wir das mal sacken.
Die Redaktion einer großen deutschen Auswanderershow, die seit Jahren im Privatfernsehen lief, hatte sich die Finger nach ihm geleckt. Ein gefallener Finanzmogul, eine zwielichtige Gestalt des Finanzsektors, das würde die Quoten in ungeahnte Höhen treiben. Ihr Angebot war nicht schlecht, vor allem für jemanden wie Señor Schwertfeger, der Geld liebte wie andere die Sonne. Der aber, das war nun leider sein Schicksal, sich sozusagen an seiner eigenen Sonne verbrannt hatte und nun Auflagen erfüllen musste, die wie Wolken seinen Himmel verdüsterten und seinen Kontostand deckelten. Sein Anwalt riet ihm ab, fand die ganze Idee seiner Auswanderung – das sagte er ihm nicht persönlich, aber seiner Frau beim Abendessen –, ein „peinliches Affentheater.“ Señor Schwertfeger, der damals noch Rudolph Schwertfeger genannt wurde, lehnte das Angebot also ab. Weil sie ihn aber um jeden Preis in ihrer Show haben wollten, schickte die Redaktion tags darauf eine Vertreterin des Senders zu ihm Nachhause. Sie klingelte und ließ sich von ihm in die leergepfändete Wohnung führen. Er solle es als eine Karrierechance sehen, sein second wind sozusagen, ob er die Reimanns kenne? Er verneinte. Er hatte gearbeitet, mit Zahlen jongliert und alle paar Jahre ein Urlaub irgendwo in einem Ressort in Südamerika gemacht, aber sicherlich kein Fernsehen geschaut. Schließlich, er wusste später selbst nicht mehr, wie es dazu gekommen war, hatte er einen Vertrag unterschrieben. Er sicherte ihnen darin zu, dass sie die Vorbereitungen seiner Auswanderung begleiten dürften. Danach würde man weiterschauen und je nachdem wie die Quoten ausfielen, könnte man, so sagte die Vertreterin, ihm auch ein höheres Angebot machen. „Wenn‘s gut läuft, vielleicht eine Rekordsumme, Herr Schwertfeger, also schön lächeln und auch mal was preisgeben!“
Rudolph Schwertfeger bereitete also seine Auswanderung vor. Er beantragte ein Visum, für das er von der deutschen Regierung aufgrund seiner Verfehlungen eine Erlaubnis brauchte, verkaufte seine wenigen noch übriggebliebenen Sachen und kündigte seine Wohnung. Ein klassischer Fehler unter Auswanderern war es, so sagte man ihm, die Sprache nicht zu lernen. Er schüttelte darüber den Kopf, denn aus seiner Zeit als international gefragter Bänker wusste er, wie wichtig es war, sich in der Sprache des Gegenübers unterhalten zu können. Deswegen sprach er fließend Englisch, etwas Französisch und hatte ausreichend Mandarin gelernt, um mit den chinesischen Geschäftspartnern Smalltalk halten zu können. Nur Spanisch hatte er nicht gelernt und gerade deshalb wollte er nach Acapulco auswandern. Er wollte einen richtigen Neuanfang mit allem, was dazugehörte.
Am ersten Drehtag holte ihn das Kamerateam samt einer Redakteurin zuhause ab, sie verkabelten und brieften ihn und fuhren dann zur Volkshochschule, wo die erste Stunde des Intensivsprachkurs Spanisch für Anfänger stattfinden sollte. Als er die Volkshochschule betrat, spürte er die Kameras in seinem Nacken und sah aus dem Augenwinkel die Tonangel über seinem Kopf baumeln. Er wollte aus der Haut fahren, so unwohl fühlte er sich. Es war die Grundlange für das Unmögliche. Man stelle es sich vor: Ein langer Gang, links und rechts Türen wie in einer Schule oder einem Rathaus. Am Ende des Ganges nun genau zwei Türen. Hinter der Linken Tür der Intensivsprachkurs Portugiesisch für Anfänger, hinter der rechten Tür der Intensivsprachkurs Spanisch für Anfänger. Rudolph Schwertfeger, der unter seinem Hemd vor Aufregung fast verging wie eine Schnecke im Salz, las nur flüchtig das Wort „Intensivsprachkurs“ und öffnete die linke Tür, trat ein, setzte sich und lernte also einen ganzen Sprachkurs lang Portugiesisch statt Spanisch. Er hatte sich lediglich gewundert, warum das Kamerateam so zufrieden und aufgedreht war, als sie ihm am Nachmittag den Sender des Mikrofons aus der Tasche nahmen. Jetzt fragt man sich doch aber: Wie kann es sein, dass jemand einen gesamten Sprachkurs macht, ihn als Klassenbester abschließt, ohne auf irgendeinem Arbeitsblatt auf den Fehler zu stoßen? Tja. Rudolph Schwertfeger zog Dinge, die er angefangen hatte, durch. Das war die einfachste Erklärung. Komplizierter wird es, wenn man es sich genau anschaut, worauf ich, zum Schutz der Geschichte, verzichte.
Als kurz vor seiner Abreise die erste Folge ausgestrahlt wurde und sie ihn wie den allergrößten Blödmann der Geschichte dastehen ließen, rastete Rudolph Schwertfeger aus. Er riss ihnen die Kameras von den Schultern und schmiss sie auf den Boden, er zog dem Mikrofon den blöden Windschutz ab, schleuderte ihn in eine Hecke und fluchte versehentlich auf portugiesisch. Die Polizei kam und aus irgendwelchen Gründen verzichtete die Produktionsfirma auf eine Anzeige. Rudolph Schwertfeger unterschrieb keinen weiteren Vertrag. Er hatte mit Deutschland ein für alle Mal abgeschlossen. Noch im Flieger schnaufte er vor Wut; andere Passagiere drehten sich genervt oder besorgt zu ihm um. Takeoff. Endlich Takeoff. Die erste und einzige Folge, die von seiner Auswanderung ausgestrahlt wurde, gehört zu den meistgesehenen Videos des deutschsprachigen Internets.