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  • 26. April 2024

    VOM GRASHALM

    Vom Feigenblatt, vom Löwenzahn, von der starkblauen Rosenblüte fallen die Tautropfen auf die Erde. Oder auf das Gras, oder erst auf das eine und dann auf das andere; so genau können wir das nicht sagen. Wir halten unsere Hände auf das unregelmäßige Steinpflaster vor dem Haus, auf das die Morgensonne und der Kirschbaum ein Muster malen. Manche Steine sind schon warm und andere noch kalt wie die Nacht. Unsere Augen sind matt und fahl und schal, denn wir haben kaum geschlafen. Immer warst du da. In jedem Satz und jedem Wort und jedem Ort. Du halltest durch die Küche, wo das Gemüse kochte, deine lautlosen Schritte, deine lichtlosen Blicke. Deine Hände, die sanft die hellweißen Gardinen berührten, auf die das Licht fiel und die wie in einem Film im Wind sich wiegten, bevor du dich durch die offenen Balkontüren davonmachtest. Das Bild, das sich einem offenbarte, wenn man das Zimmer betrat, war so magisch, dass wir ein Stipendium ausschrieben, eine Malerin kommen ließen und gebannt durch die manchmal leicht geöffnete Tür spähten. Wie sie die Farben mischte, wie sie sie auftrug, ihr Pinselstrich, Schicht um Schicht. War das dein Abschied? Waren wir vorbereitet? 
    Oh, wie furchtlos du warst, als der Krieg ausbrach. Erst in der Welt und dann in dir. Du hast mit deinen zarten Händen die sechs Saiten der Gitarre gespielt, als hinge der Wille deines Lebens daran. Als wäre er eng verknüpft mit den Schwingungen und dem Schall, mit dem Resonieren des Palisanders in deinem Schoß. Im Luftschutzbunker hast du gesungen. Es hatte von den Wänden gehallt, es zog die Menschen zu dir. Du warst die Antithese, die dem Teufel ängstlich die Zähne klappern ließ. 
    Alle hingen an deinen Lippen wie Küsse.
    Alle hingen an deinem Herzen wie Venen. 
    Alle schwammen im Wasser deiner gläsernen Augen und lagen auf dem salzigen Sand unter ihnen. Und über dir, an der Oberfläche, war deine Stadt. Wo du den ersten Kuss gehabt, wo sich dein Blick am unendlichen Himmel nicht satt sah. 
    Am Strand, da wolltest du bleiben, Hauptsache am Strand, zwischen den Muscheln und Steinen, zwischen den zerriebenen Tempeln der Zeit. Wir waren oft am Meer, als wir noch Kinder waren. Dich hat es immer am meisten betroffen, deine Augen stets die hellsten Sonnen. „Du machst uns Angst“, sagten wir, „Mama, du machst uns Angst.“ Dein Blick war wild und starr: „Es wird schon gehen, gleich, es wird gleich gehen…“ Angekommen, fiel alles ab. Sobald du die Düne bezwungen hattest. Dein Körper veränderte sich. Deine Haltung, dein Blick, der Mund in deinem Gesicht. Dein langes Haar, im Wind, entfesselt, du sankst zu Boden, auf deine Knie, du schriest. Wir hielten unsere Kinderhände, bis du angekommen warst. Bis in deiner Brust wieder Platz zum Atmen war. Du hattest Brote geschmiert, mit Butter, Marmelade und Käse. Du hattest Apfelschiffchen geschnitten, in denen der Sommer vieler Jahre war. Und unsere Augen wurden zu Leuchttürmen, „Nanana!“, hast du mahnend gesagt, „Vorsicht, sonst sinkt hier noch ein Schiff! Ihr habt Verantwortung in eurem Blick, vergesst das nicht!“
    Der Mond trägt ein Halo. Wie eine Kette um den Hals. Mattbleich. 
    Im Haus hört man das Auftreten der Anzugschuhe und der hochhackigen, der feinen schwarzen Schuhe auf dem Parkett. Kein schwerer Schritt und kein leichter Gang. Die Luft ist voller Parfüm, schwer und holzig, voll Amber und Minze und Kaktusfeigenblüte. Dazwischen der stechende Geruch von Schweiß, es ist viel zu heiß. „Um Gottes Willen! Zieht den Quatsch doch aus!“ Wir haben Angst ohne dich. Wem sollen wir unser Entzücken sagen? Wem den Horror? Wer singt uns in den Schlaf? 
    Niemand hat deinen Brief gelesen. Du hattest ihn, als der letzte große Schatten über dich zog, verbrannt. Du wolltest einfach verschwinden, aus der Welt sein, ein Vakuum. Kein Danach. Bloß kein Danach. Nichts.  — 
    Und doch wissen wir es, wir wissen es alle. Wir schauen uns an und streichen unsere Kleider und Hemden glatt, in die dein Verschwinden uns gezwungen hat.
    Wir nehmen dich in den Arm. Wir können das halten. Aber wieviel davon bist du? 
    Über dem Horizont ein kaltblauer Schleier. Darunter, ganz leicht nur, ein klingendes Lila. Darüber die Nacht. Starkschwarz. Dunkelschwarz. Wie die Unendlichkeit schwarz. Vereinzelt, am Himmel, das Flackern der Sterne. 
    Und der Mond trägt ein Halo. Wie eine Kette um den Hals. Mattbleich.  
    Komm, wir tragen dich zum Strand. Mama, wir tragen dich zum Strand, ok? Wir ziehen jetzt die Schuhe aus, ja? So ist der Gang so schwer. Geht das so? Ist das okay für dich? —
    Als der Wind die Asche deines toten Körpers auf das Meer trägt, öffnet sich ein Riss und verschlingt alles, was war und ist.

  • 04. Januar 2024

    Die Nacht veränderte sich. War sie bisher fahl und matt, kalt und blau, glitt sie nun über in einen neuen Zustand und fing langsam an, wohlig und voll zu vibrieren, in einem so satten Orange, dass wir sie Fantanächte nannten. Wir lagen auf dem Rücken, die Schultern fest in den Boden gedrückt und schauten in den Himmel. Durch die Bäume fiel das neue Licht, das wir schon kannten, das sich seit ein paar Jahren andeutete und sich allmählich immer kraftvoller zum Jahreswechsel manifestierte. Unser Atem kondensierte und der Wind trieb ihn wie einen Zauber davon. Wir schwiegen lange. So lange, bis sich unsere Atemzüge synchronisierten. Ich stelle mir uns vor, von oben, wie in einem Film, eine langsame Kamerafahrt, vom leicht geöffneten Mund langsam emporsteigend, jeden Moment den Ausschnitt vergrößernd, das lockige, dunkle Haar auf der Stirn, die leicht unförmige Nase, das Muttermal unter dem linken Auge, den Kehlkopf, dein schöner Hals, die Schultern, das sanfte pulsieren der Brust, fast wie im Schlaf, die leicht ausgestreckten Arme, an deren Ende zehn Finger fest ineinander in einen neuen Körper übergehen. Und dann liegen wir da und man würde uns sehen, in einer Totale; und im Kino würde man unsere Atemzüge hören, als wären sie fast in einem selbst und von ganz hinten würde ein melancholischer Synthesizer schieben, harmonisch, traurig und dann schließlich dissonant.

    [Totale aus der Vogelperspektive; nach langer, sanfter Kamerafahrt nun Zeitraffer; die Körper pulsieren wie in diesen Videos auf YouTube: plant growing time-lapses; ein großer Organismus]

    Wir haben Angst davor, dass uns alles entgleitet. Wir spüren, die Nächte verändern uns. Wenn wir uns schlafen glauben, sickert etwas in uns ein, imprägniert unsere Träume, unsere Gehirne, unser Denken. Wir glauben, dass sich nachhaltig etwas verändert: Wie wir die Welt sehen; nicht fundamental, sondern wir glauben, es handelt sich um leichte Verschiebungen. Wenn wir aufstehen und uns bewegen, wenn wir uns grüßen und uns umarmen, dann bemerken wir es. Wir müssen wachsam bleiben und die Veränderungen dokumentieren. Vielleicht spielt es am Ende keine Rolle. Wir fühlen uns wärmer und wir glauben, wir leuchten wieder.

  • 12. Dezember 2023

    Was ein Wahnsinn, die Biochemie in unseren Körpern. Dieser Terror, wenn die falschen Ingredienzen in Blut und Hirn umherwühlen und dich mit einem festen Stoß den Bergpass hinunterschubsen und du unten angekommen froh bist, wenn noch irgendetwas übrig ist von dir. Alles zerteilt, abgesplittert, zerrieben, zermust, abgeplatzt und sowieso in einem absoluten Chaos neuarrangiert – hoffnungsvoll gesagt – oder eben zerstört und vernichtet. Keine Entität mehr feststellbar. Vielleicht geht es ja irgendwo anders weiter.

    Seine Hand berührt vorsichtig das Geländer am Steg. Es ist in die Jahre gekommen, das Holz offenporig und marode, teilweise von Moos überzogen. An einigen Stellen haben Jugendliche ihre Initialen eingeritzt, haben sich Verbindungen gewünscht, wo keine waren. Die Luft ist salzig und frisch, riecht nach Algen und Meer und dem Geruch, den die Sandkörner am Strand abgeben, wenn sie einen Tag lang die Sonne in sich aufgenommen haben. Nur im August riecht es so, das hat er festgestellt, das hat er in jahrelanger Beobachtung herausgefunden. Der Wind zerwühlt sein verwuchertes Haar und er sieht sich selbst am Strand stehen und weiß, was jemand über ihn denken würde, der ihn nicht kennt. Er lässt seine Fingerspitzen vorsichtig in den Sand gleiten, beugt die Hände nach oben und führt sie zusammen, führt sie langsam zum Kopf, zur Nase, mit der er riecht, mit der er die Augustsonne riecht und die durch seinen Körper strömt. Dann lässt er die Körner langsam und so kontrolliert wie er kann durch die Finger rinnen, wie eine Sanduhr, denkt er, wie das Maß aller Dinge. In der Ferne das Rauschen der Brandung und über dem Horizont, nur ein kurzes Stück darüber, wie ein Ball, der über eine Linie gespielt wird, die Purpursonne.

  • 08. Dezember 2023

    Ich schrecke auf aus einem Traum. Es ist 03:03 Uhr, der Griff zum Telefon und schauen, ob alles in Ordnung ist. Ob es allen gut geht. Keiner hat etwas geschrieben. Lediglich ein Spotify-Link von F. Der Schnee reflektiert das Licht der Stadt und lässt die graue Wolkendecke in einem unheilvollen Fastrot glimmen. Der Blick aus dem Fenster: Da läuft ein Pferd, über die Straße läuft tatsächlich ein Pferd — am Straßenrand eine schwarz-weiße Kuh, ein schmächtiger Löwe und ein Wildschwein mit mondweißen Stoßzähnen, die eher einem Elefanten entliehen als seine eigenen sind — ich schreie spitz irgendetwas in die schlafenden Räume und dann kommt plötzlich ein Transporter, der mit der Geschwindigkeit von Licht rückwärts in ein Polizeiauto fährt und es beim Aufprall vollständig verschlingt, wie ein Wal sein Plankton. Ein absoluter Horror. Ich notiere um 03:11 in die Notizen: „In meine Träume sickert die Grausamkeit der Welt“. 

    Vorherige Nacht, um 00:57. Das helle Klingeln des IPhones, deine Stimme, wie du versuchst, zu verstecken, dass dir die Hoffnung fehlt. Deine Stimme, der ich anhöre, dass sie jede Sekunde bricht und die dann bricht. Das Übersteuern deines alten Telefons, wenn du zu nah am Mikrofon sprichst. Der Druck in meiner Brust, als ich langsam begreife, was das für dich bedeutet. Ich will dich in meine Arme schließen, doch es geht nicht, natürlich geht es nicht. 

  • 07. Dezember 2023

    Über den Straßen und den Bäumen und den Häusern und dem Hafen und dem Meer und den Menschen und den Tieren liegt ein dichter Nebel, der das Denken leichter macht. Da ist nicht mehr viel in der Ferne und das, was man sehen kann, ist unkompliziert, mystisch und zweidimensional. Vormoderne Flucht ins Göttliche. Ich mache den Fehler und nehme das ernst. Lebe einen Tag ein 2D Jump and Run-Life mit Powerups und Sprüngen auf die Köpfe pixeliger Monster. W A S D. 16-Bit-Architektur. Die Welt, die Realität. Meine Geburt START, D D D SPACE W D A A S SPACE SPACE D D W S S D SPACE A A SPACE W D SPACE D D W W S S SPACE GAME OVER. “Jörn, es gibt essen! Komm runter!” höre ich meine Mutter rufen. Auf der steilen Treppe, deren Stufen aus Teppich die wütenden Schritte meiner Schwester dämpfen, öffnet sich plötzlich ein Spalt zwischen den Realitäten und irgendwas stimmt nicht, das Gleichgewicht der Weltwahrnehmung für einen Moment aus dem Lot. Ein Druck im Kopf, die Augen in Tiefenunschärfe verloren, eine kurze Angst, den Weg zurück nicht zu finden. Der Geruch von Bratensoße, vor den Augen springende Pixel, mathematische Reduktion, STRING, 2 4 8 16 32 64, ALLES eine Konstruktion, dein Lachen, meine Angst, der Geruch des Sommers, warum ich das schreibe – kurz, für einen Moment wirklich da gewesen, in der Kindheit, in unserem Haus, den Teppich unter den Füßen gespürt, das Haus gerochen, das Geräusch des Insekts, das gegen das Veluxfenster fliegt, gehört. Dieses Knacken. Deine hohe Stimme. Meine junge Mutter gesehen, mein Vater rauchend am PC gesehen. Kurz mich gesehen, von oben, wie ich da war, wie unglaublich ich da war, wie nicht zu fassen ich mich bewege. Kurz in der Zukunft gesehen, wie ich dasitze und denke, wie konntest du das alles nur so tun? 

  • 03. Dezember 2023

    Schnee fällt wie Asche auf die kleine Stadt am Meer. Meterhoch haben große Räumfahrzeuge ihn aufgetürmt, wie eine Mauer, die Eifrigen, die Füchse aus Blech und Öl und Stahl, sei jetzt ganz vorsichtig, sie hören, was du sagst. Sag: Sie schleichen hydraulisch durch die Schneisen. Wir denken an ein Sommerfeuer im Garten, an das heimliche Berühren der Hände, an den kühlen Windhauch in deinem Haar. Du bist so schön, sagen wir gleichzeitig. Barfuß im Schnee. Was passiert da eigentlich, dass die so rot werden? 

    Ein Mann schreit in der Straße. Sein Fluch wird verschluckt von der Kristallstruktur gefrorener Wassertropfen. Mein Atem kondensiert an der Scheibe und meine Nase hinterlässt einen Fleck aus Fett und Talg, den ich vermutlich nicht wegwischen werde. Die Bäume des Friedhofs sehen aus wie müde Skelette, ihre Knochen fliehen dem Boden entgegen. Selbst der Tod ist müde, denke ich, dass du denkst, mit deinem Pathos, der wie Honig langsam alles überzieht, wenn man dich reden lässt. Ich lieb dich so, mein trauriger Träumer.

    Moment mal. Das ist zu kompliziert mit dem Wasser. Das aus den Wolken und aus den Augen und das aus dem Mund.  Mooooment mal.

  • 21. Juni 2023

    Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert berühren meine Füße, oder besser: die Nervenenden meiner Sohlen, meine planta pedis. Sie berühren das Grün der Erde. Sie erzählen mir davon: Es ist kühl und feucht und unendlich und ich bin mir sicher, du würdest sagen, das Gras habe die Farbe Turtlesgrün.

    Mir ist schon ganz schwindelig von der schweren, süßen und warmen Luft, die nach Joghurt und Minze und manchmal nach Sonnenmilch und Rosmarin riecht. Von dem Schweiß der Berührungen, wenn ich deine Hand zu lange halte. Von dem Geruch der Haut, die noch bis tief in die Nacht nach Sonne riecht. Von dem Schorlegefühl, das sich unweigerlich einstellt, wenn es fast nicht mehr dunkel wird. Du hast mir mal gesagt: weißt du, sag mal weißt du eigentlich, dass man Nachts, im Sommer, wenn man so lange im Gras oder im Sand oder auf der Decke oder auf einem Häuserdach liegt und die Sonne so herrlich auf einen schien, dass man dann, wenn der Körper noch nachwärmt und der Kopf noch nachdenkt und wenn man dann, erst in den Halbschlaf und dann in den Schlaf, in den tiefen Schlaf gleitet, ja dass man dann ganz sanft leuchtet, tief aus dem Körper heraus leuchtet, mit der Farbe von Bienenwachs, dieses sanfte Gold, dieses süße Gold, weißt du das eigentlich? Und ich habe dir damals nicht geglaubt, weil du immer irgendwie ein bisschen dem Pathos zugeneigt warst und in allem etwas zu involviert wirktest, so als ginge dich alles persönlich etwas an, jede Hummel, jeder Windhauch oder jedes Molekül; aber jetzt weiß ich, dass alles, was du mir gesagt hast, die Wahrheit war. Du hast alles immer genau so gemeint, jede Silbe, jede Geste, jedes Wort. Für dich gab es nie die Ironie. 

    Alles, was ich über die Welt weiß, weiß ich von dir. Du hast mir beigebracht, wie man Bäume und Pflanzen bestimmt, wie man die Gifte der Insekten ausspricht und in welchen Büchern man Blütenblätter und kleine Pflanzen presst und trocknet. Vor allem englische Klassiker eignen sich dafür, vor allem Shakespeare hat dir außerordentlich getaugt. Und noch heute fallen mir die Margeriten und die Veilchen aus den alten Büchern entgegen, die du natürlich nie so genannt hast, weil du von der Botanik nichts hieltest. 

    Immer wenn wir am Meer waren, behauptetest du, jedes Sandkorn sei eine Sonne. Eine Stellvertreterin, die heiß und trillionenfach vor uns liege und dann mussten wir uns alle um sie drehen, um jede einzelne kleine Sonne, bis wir lachend und schwindelig im heißen Sand lagen. 

    In deinen Notizheften hast du versucht, die Welt zu beschreiben. Dein großes Lebenswerk. Du hast oben angefangen, im Himmel, in den Wolken, in der Atmosphäre:

    Betongrau, glänzend Blauschwarz (wie eine junge Schwalbe), Unendlichblau, Dunkelsanftblau. Wenn der Abend kommt, jetzt im Juni, die Wolken in feinem Pastell, von unten angemalt, ins Fantaorange gehend. Der Feuerball, nur halb noch, bald hinter den Horizont fallend, Glührot, Lavarot, Heißrot. Bereits wenige Minuten später: Lavendel und Kaltblau, beruhigend, sanft und ruhig. Ein leichter Wind, das Gefühl auf der Haut wie ein behutsames Streicheln, die Temperatur wie ein leichtes Gefühl von aufziehender Zufriedenheit. Die Nacht nie ganz dunkel. Nur Ahnungen von Vantablack, Universumsschwarz, ansonsten schattierte Nuancen von Sanftblau bis Kaltblau. Vereinzelt helle, pulsierende Punkte am Nachthimmel. Kein Mond zu sehen. Nachtrag: In tiefen Schlaf gefallen und von Eisbergen geträumt.

    Dir war klar, dass du es nicht schaffen würdest, nicht schaffen kannst, niemals schaffen kannst. Du hast eine Methode entwickelt, du gabst ihr den Namen konzentrische Betrachtung. Du hast sie mir erklärt, du hast gesagt, wer konzentrisch betrachtet, der sucht sich einen Ausgangspunkt. Jeder beliebige Punkt eigne sich dafür. Man legt eine Richtung fest und schreitet dann die Form einer Spirale ab (wie groß der Umfang dieser Spirale ist, bestimmt man selbst; man unterscheidet in konzentrische Betrachtungen I, II, III und IV Stufe). Man schreitet also los und notiert. Man notiert alles, was man sieht. Zunächst noch grob und nachlässig und dann, mit dem kleiner werden der Spirale, immer genauer und feiner. Bis man, ja, bis man im Kleinsten angekommen ist und im Mittepunkt der Spirale steht. 

    Ein Baum, mittelgroß, transparente Blätter, mattes Sonnenlicht (Farbe: Weißgrün), erdiger Geruch, feine Tropfen auf der Haut, ehrfürchtige Wehmut; Trockenes karamellbraunes Laub, ein schwarzer Käfer, der Geruch von Trimethylanin, Schwermut, alte Traurigkeit, Angst; ein Vogelhaus hoch oben im Baum, ein schräges Dach, ein kleines Loch, die Größe: zwei Hände der Länge nach übereinander, in der Breite wie eine Hundeklappe; Irgendwo: das Trommeln eines Buntspechts; dem Blick folgend, etwas abschüssig, ein von Bäumen umsäumter Steg, dahinter ein See; Sonnenlicht reflektiert im Wasser, ein Schwan dazwischen, anmutig; abfallende Anspannung und kurzes Glück; das Rauschen des Windes in den Baumkronen, kleine Insekten gierig nach Blut; Holzlatten auf dem Steg: sechsundvierzig; eine königsblaue Libelle (groß); eine buscopangrüne Libelle (klein), …

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