Die Luft über Tanja zitterte, war von Salz voll und riss gierig an ihr. Wellen peitschten gegen die Felsen; rauschten und glucksten bedrohlich. Gischt funkelte in der Luft, fing den einzigen Sonnenstrahl des Tages und ließ für wenige Augenblicke einen Regenbogen erscheinen. Tanja atmete tief ein und dann aus, nahm ihr iPhone, wischte die Notifications ungelesen zur Seite und schleuderte es über die Klippen in das tosende Meer. Sie schrie laut auf und spürte ihr Gaumensegel flattern. Doch es spielte keine Rolle, der Sturm, das Rauschen, die reißende Luft würden immer lauter sein als sie. Sie stellte sich vor, wie das Salz die Elektronik zerstören, wie es schlingernd auf dem Meeresgrund hinabsinken, von den Wellen rhythmisch hin und her geschaukelt und sich immer wieder um die eigene Achse drehen würde. Sie spürte eine Erleichterung oder das Gefühl, eine Erleichterung spüren zu müssen.
Tanja hatte Glück gehabt und war mit der letzten Fähre vor der wetterbedingten Einstellung des Fährbetriebs auf die Insel gekommen. Freie Zimmer gab es in den Pensionen genug. Zuhause hatte sie alles stehen und liegen lassen und war einfach gegangen. Hatte die Heizung nicht heruntergedreht, hatte die Blumen nicht gegossen, hatte den Müll nicht rausgebracht. Sie musste weg aus der Stadt, weg von dem Geräusch, dass das Ladekabel auf dem Parkett machte, wenn sie es vom iPhone abzog. Sie musste weg von ihrem Gesicht im Badezimmerspiegel, weg von ihrer tonnenschweren Bettdecke, einfach weg von allem. Sie hatte keinen Plan gehabt, war einfach jemandem gefolgt und stand plötzlich am Fähranleger. Sie überlegte nicht, kaufte ein Ticket und antwortete auf die Frage, ob sie kein Gepäck dabei habe mit nein. Sie übergab sich mehrfach auf der unruhigen Überfahrt und deutete es einigermaßen dankbar als erste Reinigung.
Jetzt stand sie an der Klippe, war vollkommen durchnässt und spürte das körperliche Verlangen, ihr iPhone zu entsperren. Salzwasser brannte ihr in den Augen und eine Panik kroch ihr in die Brust. Welche Konsequenzen würde es haben, wenn sie niemand mehr erreichen könnte? Wie lange würde es dauern, bis man sie suchen und ihre Wohnung aufbrechen würde? Tanja stemmte sich in den Sturm, breitete die Arme aus und überließ sich. Am Morgen würde sie im ersten Licht den gefrorenen Kristallstrukturen auf den Gehwegen nachgehen, darin etwas suchen, wovon sie nicht wusste, was es war. Würde die Lösung finden. Morgen würde sich alles fügen.