Ich stehe an der Bushaltestelle. Alles wirkt eigenartig. Vor mir auf dem Gehweg liegt der Rest einer Pizza und ich erkenne den Abdruck von Zähnen darin. Über mir kreist gierig eine Möwe, setzt immer wieder zur Landung an, um dann im letzten Moment abzudrehen. Ich bin zu nah an ihrer Beute. Ich schiebe mit meinem Stiefel den Pizzarest vorsichtig ein Stück weiter an die Bordsteinkante. Die Möwe landet, tapst hastig die letzten Zentimeter, schnappt sich den Pizzarest und fliegt tief über die Straße davon. Das muss eine echte gewesen sein, denke ich, so exakt wie sie reagiert hat, so glitchfrei wie sie sich bewegte. Der Bus kommt und ich steige ein. Es ist eigentlich kein Bus mehr, wir nennen die Kapsel nur so, weil wir um jeden Preis an einer Vergangenheit festhalten wollen. Die Sprache geben wir als letztes auf. Die Kapsel hat weder Räder noch einen Fahrer und ich bin mir nicht mal sicher, ob sie sich wirklich fortbewegt oder die Welt um sie herum nur neu zusammengesetzt wird. Raum im Raum im Raum. Die Supersimulation hat es jemand genannt; das habe ich irgendwo aufgeschnappt. Als ich die Kapsel betrete, leuchtet es kurz grün, was heißt, dass alles in Ordnung ist. Ich schaue auf mein iPhone, was ich nur aus starknostalgischen Gründen noch benutze und sehe, dass es die Fahrt registriert hat. Bis zum Ende des Jahres darf ich es noch behalten, dann muss ich es gegen eine der Linsen tauschen. Ich habe mir die Zukunft immer wie eine Black Mirror Folge ausgemalt, in der die Veränderungen so überspitzt deutlich wurden, dass man nicht anders konnte, als sich davon befreien zu wollen – aber jetzt ist alles anders. Ich merke es kaum, ich weiß nur, dass sich alles fundamental verändert hat. Wie ein Halsschmerz auf der Seele, der auch nach dem Schlucken nicht verschwindet. Manche meiner Kollegen sagen, wir seien die digitale Sicherheitskopie, die erstellt wurde, als der Komet ANAS auf die Erde zuraste. An den ich mich erinnere, an die große Angst vor der Vernichtung und die unbeschreibliche Erleichterung, als die NASA ihn abfing und seine Flugbahn manipulierte und nur ein paar hunderttausend Menschen an der Beinahtangente gestorben sind. Mein Kollege sagt, das sei Fiktion, um unsere Gehirne vor dem Kollaps zu schützen. Der Komet habe wirklich die Erde zerstört und wir, die Realität und alles eben, seien ein berechnetes Spiegelbild. Quasi abgepaust wie ein Pfennigstück nur eben bis in die Strings identisch. Ich setze mich in der Kapsel auf einen der Sitze. Es gibt keine Doppel- oder gar Vierersitze mehr. Außer mir sind hier noch ungefähr sieben andere Menschen, das weiß ich, weil die Maschinen andere Wege nutzen. Sie schauen aus den Fenstern, die keine Fenster, sondern Projektionen sind. Wenn sie die Linsen tragen, dann sehen sie, was sie wollen. Das Berner Oberland, Kitchen Impossible aus dem RTL+ Archiv oder das milchblaue Glitzern der Adria. Ich allerdings sehe nur die lieblose Illusion meiner Stadt, die mir jedoch hundertmal lieber ist, die ich aufsauge, bis ich ankomme. Die Kapsel öffnet sich. Ich habe kein Abbremsen, keine Fliehkraft oder irgendwelche Weltgefühle wahrgenommen. Ich steige aus und gehe einen langen Gang entlang, der an eine U-Bahn-Station einer Großstadt erinnert. Mein iPhone vibriert und sagt mir, in welche Richtung ich gehen soll. Ich habe die Anweisungen noch nie ignoriert. Ich stehe vor einer Schleuse und der Sensor erkennt mich. Sie öffnet sich und ich trete ein. Die Simulation einer notwendigen Tätigkeit: Zischen, Luftaustausch, fein zerstäubter Nebel etc. Ich darf eintreten. Ein Zwischenwesen bringt mich zu einer medizinischen Liege und ich weiß, was zu tun ist. Ich lege mich auf den Rücken und warte, bis die Nadel in meine Vene gleitet. Dass es kurz piekst, dass ich einen echten Schmerz spüre, erleichtert mich und lässt mich an dem Gedanken festhalten, dass ich noch echt bin. Mir wird mein gesamtes Blut entnommen und kurzfristig durch einen Glücksglibber substituiert. Ich bin zufrieden. Ich helfe ihnen gerne.