Alles war von Staub überzogen. Manchmal, wenn die Sonne schien und die Rahmen der Fenster das Licht portioniert in die Wohnung ließen, tanzte er wirbelnd durch die Luft. Wie schön sie das fand. Schon lange war das Gefühl des Versagens verschwunden und Hermann störte es sowieso nicht. Hermann seufzte. Der Fernseher war ausgegangen. Das tat er hin und wieder, aber einen neuen zu kaufen, das war nicht drin, das kam ihnen nicht in den Sinn, das lohnte sich einfach nicht mehr. Hermann erhob sich, was schon mal den ganzen Tag dauern konnte und schlurfte Schritt für Schritt, Beine und Knie wackelig, am dunklen Teakholztisch vorbei zum Fernsehschrank. Er wusste, was zu tun war. Wäre er einmal nicht mehr, ihr würde nur der tanzende Staub in der Luft bleiben, der, so tröstete sie sich, wenigstens keinen bodenlosen Unfug reden würde. Hermann sackte zurück in den Sessel und atmete zufrieden. Auf der Mattscheibe flackerten bunte Welten und irgendwer hatte irgendwen umgebracht. Sie verstand nicht, warum man sich so etwas anschaute, wenn auch dort der Tod allgegenwärtig war. Aber Hermann mochte es und wenn Hermann zufrieden war, dann war sie es auch. Sie strich mit der Hand über die weiche Lehne ihres sanftroten Ohrensessels. Noch immer hatte sie das Gefühl, besonders vorsichtig sein zu müssen; er hatte doch ein halbes Vermögen gekostet, war noch so gut wie neu, obwohl sie sich an ein Leben ohne ihn schon nicht mehr erinnern konnte. Sie betrachtet sich. Wann war ihre Haut eigentlich so faltig und schlaff geworden? Seit wann hing sie am Unterarm herunter, als würde ein Grab schon an ihr reißen. Ob es Hermann auch so ging? Die Kraft ihrer Augen reichte nicht mehr, schaute sie zu ihm hinüber, sah er noch immer so aus, wie das Bild, das sie von ihm hatte: Ein großer, kräftiger und gutaussehender Mann. Mein Hermann, trägst du mich irgendwohin? Ich möchte hier nicht mehr sitzen, ich möchte gehen mit dir, du an meiner Seite und ich an deiner, wir beide, du und ich, wie damals, weißt du, als du deine Lippen auf meine gelegt und ich gekichert und du mich besucht hast, wir uns versteckten vor meinen Eltern, ach Hermann, du warst wirklich der Hauptgewinn.
Vor den Fenstern stieg die Sonne und senkte sich, es regnete und schneite und manchmal glomm die Hitze und schmolz die Luft, ließ die Häuserwände glühend pulsieren. Schau Hermann, wie in der Wüste. Wie in der Wüste, wiederholte Hermann zufrieden. Manchmal sah sie den Schnee in den Lichtkegeln der Straßenlaternen niedergehen. Schau Hermann, wie es schneit. Oh ja, bemerkte er.
Hermann schnarchte ruhig. Der Fernseher bläkte und Ilse stand auf. Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. Aber es ging noch. Und wie es ging! Ein Schritt hierhin, einer dorthin und schon ein anderer Winkel, eine andere Welt. Aber erstmal wieder hinsetzen. Jeden Tag nun, wenn Hermann schlief, tapste sie durch die Wohnung, schaute sich alles an und warf sogar einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster. Hermann, rief sie, Hermann, wach auf. Was ist, Ilse, bin ich eingeschlafen? Natürlich bist du das, aber darum geht es nicht. Wir verreisen jetzt, wir verlassen das Haus, wir gehen spazieren. Bist du wahnsinnig, fragte Hermann. Ich glaube schon, ich glaube, ich bin’s gerade geworden. Okay, sagte Hermann, das ist okay. Nicht wieder einschlafen, Hermann! Ich habe uns schon eine Tasche gepackt. Du meinst es ernst, sagte Hermann. Ich mein es ernst. Ilse brachte ihm seinen Anorak, sah ihn jetzt von Nahem, das erste Mal seit Jahren. Nicht mehr ganz, wie sie gehofft hatte, aber Hauptsache, er stand hier mit ihr. Sie kämmte sein schütteres Haar, bis es aufgab und sich auf seinen Kopf legte. Schön siehst du aus, mein Hermann. Schön siehst du aus, meine Ilse. Gehen wir wirklich? Und wie wir gehen, siehst du, wir stehen doch schon, das ist das Schwerste. Wer erstmal steht, der ist nicht aufzuhalten. Wie recht du hast, sagte Hermann und lächelte. Das gab es doch nicht. Ihr Herz schlug schneller. Da bist du ja, jauchzte sie. Wer ist wo, fragte Hermann. Du bist hier, bei mir und ich seh’ dich und ich fühle dich. Dann harkten sie sich beieinander unter und verließen die Wohnung, schlichen vorsichtig durch das Treppenhaus und vor die Tür. Dort waren Tag und Nacht, Sommer und Winter, Krieg und Frieden, Trauer und Freude, dort waren sie. Ilse und Hermann. Einen Schlüssel hatten sie nicht dabei.