Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert berühren meine Füße, oder besser: die Nervenenden meiner Sohlen, meine planta pedis. Sie berühren das Grün der Erde. Sie erzählen mir davon: Es ist kühl und feucht und unendlich und ich bin mir sicher, du würdest sagen, das Gras habe die Farbe Turtlesgrün.
Mir ist schon ganz schwindelig von der schweren, süßen und warmen Luft, die nach Joghurt und Minze und manchmal nach Sonnenmilch und Rosmarin riecht. Von dem Schweiß der Berührungen, wenn ich deine Hand zu lange halte. Von dem Geruch der Haut, die noch bis tief in die Nacht nach Sonne riecht. Von dem Schorlegefühl, das sich unweigerlich einstellt, wenn es fast nicht mehr dunkel wird. Du hast mir mal gesagt: weißt du, sag mal weißt du eigentlich, dass man Nachts, im Sommer, wenn man so lange im Gras oder im Sand oder auf der Decke oder auf einem Häuserdach liegt und die Sonne so herrlich auf einen schien, dass man dann, wenn der Körper noch nachwärmt und der Kopf noch nachdenkt und wenn man dann, erst in den Halbschlaf und dann in den Schlaf, in den tiefen Schlaf gleitet, ja dass man dann ganz sanft leuchtet, tief aus dem Körper heraus leuchtet, mit der Farbe von Bienenwachs, dieses sanfte Gold, dieses süße Gold, weißt du das eigentlich? Und ich habe dir damals nicht geglaubt, weil du immer irgendwie ein bisschen dem Pathos zugeneigt warst und in allem etwas zu involviert wirktest, so als ginge dich alles persönlich etwas an, jede Hummel, jeder Windhauch oder jedes Molekül; aber jetzt weiß ich, dass alles, was du mir gesagt hast, die Wahrheit war. Du hast alles immer genau so gemeint, jede Silbe, jede Geste, jedes Wort. Für dich gab es nie die Ironie.
Alles, was ich über die Welt weiß, weiß ich von dir. Du hast mir beigebracht, wie man Bäume und Pflanzen bestimmt, wie man die Gifte der Insekten ausspricht und in welchen Büchern man Blütenblätter und kleine Pflanzen presst und trocknet. Vor allem englische Klassiker eignen sich dafür, vor allem Shakespeare hat dir außerordentlich getaugt. Und noch heute fallen mir die Margeriten und die Veilchen aus den alten Büchern entgegen, die du natürlich nie so genannt hast, weil du von der Botanik nichts hieltest.
Immer wenn wir am Meer waren, behauptetest du, jedes Sandkorn sei eine Sonne. Eine Stellvertreterin, die heiß und trillionenfach vor uns liege und dann mussten wir uns alle um sie drehen, um jede einzelne kleine Sonne, bis wir lachend und schwindelig im heißen Sand lagen.
In deinen Notizheften hast du versucht, die Welt zu beschreiben. Dein großes Lebenswerk. Du hast oben angefangen, im Himmel, in den Wolken, in der Atmosphäre:
Betongrau, glänzend Blauschwarz (wie eine junge Schwalbe), Unendlichblau, Dunkelsanftblau. Wenn der Abend kommt, jetzt im Juni, die Wolken in feinem Pastell, von unten angemalt, ins Fantaorange gehend. Der Feuerball, nur halb noch, bald hinter den Horizont fallend, Glührot, Lavarot, Heißrot. Bereits wenige Minuten später: Lavendel und Kaltblau, beruhigend, sanft und ruhig. Ein leichter Wind, das Gefühl auf der Haut wie ein behutsames Streicheln, die Temperatur wie ein leichtes Gefühl von aufziehender Zufriedenheit. Die Nacht nie ganz dunkel. Nur Ahnungen von Vantablack, Universumsschwarz, ansonsten schattierte Nuancen von Sanftblau bis Kaltblau. Vereinzelt helle, pulsierende Punkte am Nachthimmel. Kein Mond zu sehen. Nachtrag: In tiefen Schlaf gefallen und von Eisbergen geträumt.
Dir war klar, dass du es nicht schaffen würdest, nicht schaffen kannst, niemals schaffen kannst. Du hast eine Methode entwickelt, du gabst ihr den Namen konzentrische Betrachtung. Du hast sie mir erklärt, du hast gesagt, wer konzentrisch betrachtet, der sucht sich einen Ausgangspunkt. Jeder beliebige Punkt eigne sich dafür. Man legt eine Richtung fest und schreitet dann die Form einer Spirale ab (wie groß der Umfang dieser Spirale ist, bestimmt man selbst; man unterscheidet in konzentrische Betrachtungen I, II, III und IV Stufe). Man schreitet also los und notiert. Man notiert alles, was man sieht. Zunächst noch grob und nachlässig und dann, mit dem kleiner werden der Spirale, immer genauer und feiner. Bis man, ja, bis man im Kleinsten angekommen ist und im Mittepunkt der Spirale steht.
Ein Baum, mittelgroß, transparente Blätter, mattes Sonnenlicht (Farbe: Weißgrün), erdiger Geruch, feine Tropfen auf der Haut, ehrfürchtige Wehmut; Trockenes karamellbraunes Laub, ein schwarzer Käfer, der Geruch von Trimethylanin, Schwermut, alte Traurigkeit, Angst; ein Vogelhaus hoch oben im Baum, ein schräges Dach, ein kleines Loch, die Größe: zwei Hände der Länge nach übereinander, in der Breite wie eine Hundeklappe; Irgendwo: das Trommeln eines Buntspechts; dem Blick folgend, etwas abschüssig, ein von Bäumen umsäumter Steg, dahinter ein See; Sonnenlicht reflektiert im Wasser, ein Schwan dazwischen, anmutig; abfallende Anspannung und kurzes Glück; das Rauschen des Windes in den Baumkronen, kleine Insekten gierig nach Blut; Holzlatten auf dem Steg: sechsundvierzig; eine königsblaue Libelle (groß); eine buscopangrüne Libelle (klein), …