Merit schaute durch das gigantische Teleskop, das auf die verhältnismäßig schmale Luke des Observatoriums gerichtet war. Sie konnte kaum glauben, dass man sie durchschauen ließ. Als technische Leiterin der Datenauswertung überschaute sie Tabellen und Zeitpläne, hatte jedoch mit den Untiefen des Universums reichlich wenig zu tun. Sie hatte allerhand Formulare und Einverständniserklärungen unterschreiben und dem Wissenschaftsdirektor, der ihr streng in die Augen geschaut hatte, versichern müssen, es im Kollegium nicht herumzuerzählen. Die meisten waren sowieso in Washington, hatten geheime Termine mit der NASA zu denen sie angespannt aufgebrochen waren. Merit hatte sich eigentlich auf die Weihnachtszeit gefreut, auf die ruhige Gemütlichkeit, die auch in eine hochprofessionelle Institution wie die European Space Agency einsickerte, sich wohlig ausbreitete, die man in den Gesichtern der Mitarbeiter*innen sehen und in ihrem Gang erkennen konnte. Dieses kurze Durchatmen, wenn die Luft von geschälten Früchten zitrussüß und die Tastaturen und Knöpfe klebrig waren. Wenn wütende Mails der Gebäudereinigung auf feierliche Autoreplys trafen. „Das machen wir im neuen Jahr“, war ihr Lieblingssatz in dieser Zeit. Doch dieses Jahr schien es anders. Nicht mal die Pförtnerin hatte einen Adventskranz.
Aber Merit durfte durch das Teleskop schauen. Sie sah unendlich alte Gasnebel tiefrot glühen wie Sonnenuntergänge, sah Pulsare sich drehen wie Kreisel, sah das schwärzeste Schwarz, das sie je gesehen hatte, spürte es sie kurz ergreifen, schüttelte es ab und sah Kometen glühend rasen. Sie hörte Schritte auf dem glatten Boden hinter sich. Es musste Cliff sein. Der Bereichsleiter extraterrestrischer Artefakte und Vibes. Den Moschus seines Parfüms roch man bereits lange vor seinem Erscheinen. Es war sein Versuch, die Unsicherheit zu überspielen. Sie hörte das Öffnen seiner Lippen, dieses kurze Schmatzen vor dem ersten Laut, das man nur in einem solchen Raum hörte, in dem es fast zu jedem Zeitpunkt unendlich still war. „Weißt du, warum du hier bist?“, fragte er.
„Weil die ESA eine Adventskalenderaktion macht und jeden Tag jemand durch das Teleskop schauen darf, der sonst keine Freigabe hat?“, scherzte sie.
Cliff lachte. Suchte verlegen nach Wörtern. Wurde rot, räusperte sich und sagte schließlich: „Ich wünschte, es wäre so einfach.“ In seiner Stimme lag etwas Schweres. „Merit …“, sagte er ernst, „Du spürst es doch auch, oder? Du spürst, dass sich etwas verändert hat, diese Vibration im Kern, dieses Gefühl allumfassender Partikelflucht?“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Cliff.“
„Und genau deswegen bist du hier“, sagte er triumphierend, „weil du unbefangen bist, darum haben wir dich eingestellt. Weil du aus der alten Wissenschaft kommst. Weil du ihr verpflichtet bist.“ Cliff pulte lustvoll bunte Fusseln aus seinem blassorangenen Rollkragenpullover, schnipste sie in die Luft und hing ihnen verträumt nach. Er ignorierte die Sicherheitsbestimmung, die eine strenge Berufskleidung vorschrieben. Overalls, Namensschilder und sowas. Gerade solche Fussel, hieß es, würden die sensible Elektronik der Teleskope beschädigen.
Seit sie bei der ESA arbeitete, hatte sie sich zunehmend darüber gewundert, dass immer öfter von Stimmungen und Vibes gesprochen wurde. Offensichtlich hatte ein Shift hin ins Esoterische stattgefunden. Es gab kaum mehr Raketenstarts, dafür Tänze und Duftöle in den Konferenzräumen. In den letzten Monaten hatte sie das Gefühl, man wollte sie immer weiter von ihrer Tätigkeit abbringen. Sie gaben ihr die absurdesten Aufgaben: Sie könnte ihre Auswertungskriterien doch auch mal farblich denken, räumlich, sie mal umordnen, substanzinduziert neuarrangieren. Excel einfach mal schließen. Wirklich mal ALLES anders denken und es dann am kommenden Montag der Wissenschaftsleitung vorstellen. Bitte, was? —
„Merit, dass du es nicht verstehst, ist der Kern der Sache!“, sagte Cliff, als er ihr inneres Augenrollen zu bemerken schien. „Ich stelle dir jetzt die Koordinaten ein, wegen derer du hier bist und du musst mir beschreiben, was du siehst UND was du fühlst, verstanden?“
Merit zuckte mit den Schultern. „Ok.“ Vor einer Woche war das Weihnachtsgeld gekommen, da wollte sie sich nicht querstellen. Sie hörte Cliff piepend in eine Konsole tippen. Das Teleskop bewegte sich mechanisch surrend auf seine neue Position und die Luke der Kuppel öffnete sich ein weiteres Stück. Cliff schaute durch das Teleskop, trat einen Schritt zurück und nickte zufrieden. „Nur zu!“, sagte er und wirkte plötzlich gar nicht mehr schüchtern. Merit legte ihr Auge auf das Eyepiece und schaute durch. Sie sah nichts. Es war einfach nur schwarz, nicht mal so dunkel wie das Schwarz, das sie vorhin gesehen hatte. Eher so ein der-Fernseher-findet-das-HDMI-Signal-nicht-Hintergrundschwarz. „Und?“, sagte Cliff aufgeregt.
„Ich sehe nur schwarz, sonst nichts.“
„Oh“, seufzte er. „Versuch mal mit dem Herzen zu sehen, ja?“
Er tat ihr leid. Er war ein Idiot, aber er tat ihr leid. Er wirkte wie ein kleiner Junge, dessen selbstgebastelten Flügel ihm beim Sprung von der Sofalehne nicht getragen hatten. Es war der Beginn der Weihnachtszeit, der erste Dezember, um genau zu sein, da könnte sie ihm doch auch eine kleine Freude machen, dachte sie. Immerhin durfte sie durch das Teleskop schauen.
„Oh!“, rief sie, „Oh, jetzt seh‘ ich was!!!“
„Merit, was siehst du? Sag schnell!“
„Ich sehe eine Form, sie ist geometrisch und golden, sie bewegt sich, als würde sie einen Zustand erlangen wollen. Funken schlagen an den Rändern, violette Strahlung. Cliff, es sieht wie ein Engel aus!“
„Also doch“, raunte Cliff fassungslos. Er setzte sich sein Headset auf und kletterte hastig über eine Leiter zu einem weiter oben gelegenen Kontrollkasten.
„Washington, can you hear me? Over.“
„We can hear you loud and clearly Heidelberg-Königsstuhl. Over.”
“Code Panis Angelicus. I repeat. Code Panis Angelicus. Over.”
Das Funkgerät rauschte und nach einer Pause, in der Cliff wie versteinert dastand, der Blick gen Weltall, krächzte es: “Proceed. See you on the other site. Godspeed. Over.”
Cliff öffnete den Kasten und schlug mit der flachen Hand auf einen, wie Merit schien, überdimensionierten großen roten Knopf. Alarmsirenen heulten schrill auf, Lichter blinkten bedrohlich, Türen fielen zu und die Luke über dem Teleskop schloss sich. „Merit! Schnall dich fest! Da drüben! Du hast Glück, du wirst auch gerettet!“ Cliff schrie gegen den Lärm der Sirenen an, während er auf eine Reihe an futuristisch anmutenden Sesseln zeigte, die gerade aus dem Boden gefahren kamen. Was passierte hier? Es war wie in einem dieser dämlichen Science-Fiction-Filme, die sie so hasste. „Merit! Schnell!“ Cliff ließ sich hastig von den letzten Stufen der Leiter fallen und half ihr, den Gurt im Sessel anzulegen. Er zog ihn so fest, dass es wehtat. „Aua!“, schrie sie. „Tut mir leid, aber es muss so sein.“ Auch Cliff schnallte sich nun fest und warf ihr einen Astronautenhelm zu, den sie, ohne noch irgendetwas weiter zu hinterfragen, aufsetzte. Er zeigte ihr ein fragendes thumbs up.„Ne, Cliff, Daumen nach unten. Mag ich gar nicht nicht. Dislike“, raunte sie genervt, aber das würde er natürlich nicht hören. Daumen nach unten. Es spielte keine Rolle: Ein schiebendes Dröhnen überzog alles, drang ihr durch die Haut in die Organe, begann ihre Zellen zu zersetzen. Dann Explosionsgeräusche. Dann ein Schub, ein Pressen in der Brust, ihr Rücken tief im Polster des Sessels, ihre Augen seitlich in den Schädel gerollt – SCHWARZ.
Stille. Sie blinzelte. Dunkel. Hell. Dunkel. Hell. Einatmen. Ausatmen. Geht noch. Wo bin ich? Ah, ja. Ne, hä?
Sie sah Cliff schwerelos durch das Observatorium treiben. Er sprach geschäftig und beinahe routiniert in sein Headset und betätigte vorher nicht dagewesene Instrumente und Konsolen. Piep. Piep. Die Kuppel hatte sich wieder geöffnet und schien durch ein Energiefeld geschützt zu sein. Es glibberte wie Agar-Agar. Sie traute ihren Augen nicht. Sie flogen tief durchs Weltall, an Sternen vorbei, an Monden und Sonnen vorbei und in Richtung eines goldenen Lichts. Cliff, der Idiot, hatte sie ins Weltall geschossen.